"Vom Staat wird ein Rundum-sorglos-Paket erwartet"

Prof. Dr. jur. Uwe Volkmann

Prof. Dr. jur. Uwe Volkmann

© BMI

Recht in der Pandemiekrise: über das Dilemma des Infektionsschutzgesetzes, eine verfassungsrechtliche Lesart der Impfpflicht und die staatliche Bewirtschaftung von Freiheitsrechten auf dem Weg in einen „Präventionsstaat“. Im Gespräch mit Uwe Volkmann, Mitglied der interdisziplinären DFG-Kommission für Pandemieforschung.

Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.


 

Professor Dr. jur. Uwe Volkmann ist  seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Verfassungstheorie, bei Fragen der Grundrechte, der Demokratietheorie sowie im Parteienrecht.

"forschung": Herr Professor Volkmann, wir führen dieses Interview Mitte März. In Kürze sollen die Corona-Maßnahmen großflächig gelockert werden oder ganz wegfallen. Zugleich gibt es hohe Inzidenzen, begleitet von der Feststellung, dass Pandemie und Pandemiebekämpfung noch nicht vorbei seien. Ist dieses Grunddilemma für das neue Infektionsschutzgesetz überhaupt auflösbar?

Uwe Volkmann: Das Grunddilemma ist immer da, wobei zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind: Zum einen hat sich die Aussagekraft der Inzidenzen verändert. Inzidenzen bedeuten heute etwas anderes als vor einem oder zwei Jahren. Zum anderen besteht mit der Impfung für jeden eine zumutbare Möglichkeit, sich zumindest vor einem schweren Verlauf der Erkrankung zu schützen. Es gibt weitere Möglichkeit effektiven Selbstschutzes, etwa durch Tragen einer FFP2-Maske. Das verschiebt die Gewichtung zwischen dem, was der Staat an Risikoverantwortung übernimmt und was in die Hände des Einzelnen zurückverlegt wird. Die Möglichkeit, sich impfen zu lassen, ist hier auch verfassungsrechtlich ein Kipppunkt gewesen.

Das neue Infektionsschutzgesetz setzt auf „Basismaßnahmen“ und eine „Hotspot-Strategie“. Wenn der zentrale Rechts- und Erklärungsgrund in der Pandemiebekämpfung – Abwendung einer Überlastung der Kliniken und des Gesundheitssystems – wegfällt, muss dann gelockert werden?

Das würde ich prinzipiell bejahen. Voraussetzung ist allerdings, dass es eine Verständigung über das Ziel der Corona-Maßnahmen gibt. Das ist politisch letztlich nie geklärt worden, auch im Infektionsschutzgesetz immer offengeblieben: Geht es um den Schutz vor jeder einzelnen Infektion oder nur um die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems? Beide Ziele werden im Infektionsschutzgesetz gleichrangig genannt, das Verhältnis bleibt aber in der Schwebe. Grundsätzlich können die politisch Handelnden das Ziel auch frei festlegen. Wenn aber das Ziel weiter sein soll, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, dann bedeutet das zwingend, dass bei Wegfall der entsprechenden Gefahr die Maßnahmen gelockert werden oder wegfallen müssen.

Über das allgegenwärtige Überlastungsnarrativ hinaus wurden die freiheitsbeschränkenden Pandemiemaßnahmen im Namen eines Schutzes von Leben und Gesundheit gerechtfertigt. Gilt das auch, wenn aus einer pandemischen Notlage eine endemische Lage wird?

Zunächst und vor allem muss man sich anschauen, wie es in der Verfassung um den Schutz von Leben und Gesundheit im Verhältnis zu anderen Verfassungsgütern bestellt ist. Leben und Gesundheit sind sehr hohe Rechtsgüter, können aber keinen absoluten Vorrang vor anderen Rechtsgütern beanspruchen. Die zu ihrem Schutz eingesetzten Mittel müssen abgewogen werden gegen die Beeinträchtigung dieser anderen Rechtsgüter. Das einzige Verfassungsprinzip, das einen Vorrang vor allen anderen beanspruchen kann, ist die Menschenwürde – der Schutz der Menschenwürde ist der verfassungsrechtliche Höchst- und Leitwert.

Seit Beginn der Pandemie hat sich die Politik das Prinzip der Verhältnismäßigkeit auf die Fahnen geschrieben. Vielen klingt das Merkel-Wort noch im Ohr, alle Schutzmaßnahmen müssten „geeignet, erforderlich und angemessen sein“. Doch hat sich die Verhältnismäßigkeit tatsächlich als regulierende Kraft gezeigt?

Auch da scheint mir die Antwort zwei Seiten zu haben: Das Verfassungsargument ist in Deutschland sicher stärker als in anderen Ländern. Das dürfte mit dazu geführt haben, dass wir ersichtlich überschießende Maßnahmen – ich denke an die Ausgangssperren in Frankreich mit einem Freiheitsareal von 900 Metern um das eigene Haus herum – in der Bundesrepublik nie hatten. Auf der anderen Seite hat sich gezeigt, dass Verhältnismäßigkeit bei einer großflächigen und komplexen Gefahrenlage wie einer Pandemie nur schwer umzusetzen ist.

Wie bewerten Sie die lang diskutierte allgemeine Impfpflicht, die nach einer einrichtungsbezogenen Impfpflicht nun im Bundestag auf den Weg gebracht werden soll?

Ich halte eine allgemeine Impfpflicht im Ergebnis für verfassungsmäßig begründbar, ausgehend von der zentralen Frage, wie schwer man den damit verbundenen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bewertet. Objektiv betrachtet halte ich ihn für nicht allzu scherwiegend. Zugleich muss aber das Ziel dieser Impfpflicht bestimmt sein: Was soll mit einer solchen Impfpflicht eigentlich erreicht werden? Wenn das Ziel eine gesellschaftliche Resilienz ist, die eine Rückkehr zum normalen Leben für alle ermöglicht, gibt es für eine Impfpflicht gute verfassungsrechtliche Argumente. Wichtig ist dann aber der Konnex: Impfpflicht ja, aber eben gegen Auslaufen der anderen Maßnahmen.

Mit dem Pandemieregiment der letzten Monate waren Sonderrechte für Geimpfte und Genesene im 2G-, 3G- oder 3Gplus-Alltag verbunden. Halten Sie diese Sonderrechte für verfassungsfest?

Es gilt der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz: Gleiches ist gleich zu behandeln, Ungleiches aber auch ungleich. Wenn von Geimpften und Genesenen eine geringere Gefahr für die Überlastung des Gesundheitssystems ausgeht, aber auch für die Infektionsübertragung, dann ist es nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern geboten, Geimpfte besser zu stellen als Ungeimpfte.

Wo endet die kollektive Verantwortung in der Pandemie und wo beginnt die individuelle Selbstverantwortung?

Lassen Sie mich einen alten Satz des politischen Liberalismus anführen: Soweit der staatliche Schutzauftrag für die Gesundheit nur durch ein System von Freiheitsbeschränkungen erfüllt werden kann, endet dieser Schutzauftrag dort, wo es jedem Einzelnen in zumutbarer Weise möglich ist, sich selbst zu schützen. Das Problem ist, dass im Zuge der Pandemie sich der Blick auf die Gewichtung dieser beiden Elemente – kollektive Verantwortung hier und Eigenverantwortung dort – verschoben hat. Es wird zunehmend vom Staat ein Rundum-sorglos-Paket erwartet.

Hätte es rückblickend Alternativen zur staatlichen Pandemiepolitik gegeben?

Verfassungsrechtlich betrachtet, gibt es eine ganze Bandbreite von Reaktionsmöglichkeiten. Die demokratisch beschlossene Pandemiepolitik ist verfassungsrechtlich möglich, möglich wäre aber auch unter dem Blickwinkel eines prinzipiellen Schutzes von Leben und Gesundheit ein liberalerer Weg gewesen, wie ihn Schweden lange Zeit beschritten hat. Ein Problem der Pandemiebekämpfung ist, dass wir uns an die ständige Bewirtschaftung individueller Freiheiten durch den Staat regelrecht gewöhnt haben.

Der Staat hat in sowohl kurativer als auch präventiver Absicht bürgerliche Freiheitsrechte eingeschränkt. Warum können von einem „Präventionsstaat“ Gefahren für den Rechtsstaat ausgehen?

Seit den 1980er- und 1990er- Jahren beobachten wir, dass der Staat präventiver denkt und agiert. Das Problem des Präventionsstaats ist nur, dass die Zahl der theoretischen Gefahrenquellen stets größer ist als die der tatsächlichen Gefahrenlagen. Ein Risiko kann überall lauern; möglich ist immer alles. Und von dieser Logik der Möglichkeit her können dann immer auch ganz weitgehende Freiheitseingriffe gerechtfertigt werden.

Stichwort „Möglichkeiten“. Täuscht der Eindruck, dass sich Formen und Verfahren der politischen Krisenbewältigung grundlegend verändert haben?

Sie sprechen ein grundlegendes Problem der Pandemiebekämpfung an. Sie ist überwiegend in Formen und Verfahren erfolgt, die an denen der Verfassung weitgehend vorbeiliefen; eine Runde wie die Ministerpräsidentenkonferenz unter Beteiligung des Kanzleramts, die lange Zeit alle zentralen Entscheidung getroffen hat, ist in der Verfassung ja nicht vorgesehen. Die Möglichkeiten des parlamentarischen Verfahrens sind demgegenüber – und das gilt bis heute – systematisch verschenkt worden. Auch eine Verständigung über den inneren Grund der Maßnahmen ist so ausgeblieben.

Angesichts dieses Defizits – welche ungeklärte Grundfrage verfassungsrechtlicher Art steht für Sie heute im Vordergrund?

Wenn man über Verfassung redet, geht es häufig um die kategoriale Gegenüberstellung von „verfassungsgemäß“ versus „verfassungswidrig“. Tatsächlich ist das Verfassungsargument komplexer, es ist letztlich verankert in unseren Lebenszusammenhängen und Lebensbezügen. Im Streit um politische Maßnahmen spielen verfassungsrechtliche Güter immer irgendwie mit. In der Verfassung verhandeln wir das Selbstbild unserer Gesellschaft, also eine Vorstellung davon, welche Prinzipien für unser Zusammenleben bestimmend sein sollen. Dieses Selbstbild ist für Verschiebungen anfällig, die sich in geänderten Verfassungsinterpretationen niederschlagen.

Was bedeutet das pandemiebezogen?

Die grundlegende Verschiebung betrifft das Verhältnis von individueller Verantwortung und kollektiver Verantwortung. Aus meiner Sicht wird zu schnell nach dem Staat und nach entsprechenden Beschränkungen gerufen, statt die Zivilgesellschaft stärker einzubinden und auf individuelle Selbstverantwortung zu setzen.

Was folgt daraus?

Die Folge ist, dass sich Bürger nach zwei Pandemiejahren nicht mehr fragen „Was soll ich tun?“, sondern nur noch „Was darf ich tun?“ oder umgekehrt „Was ist gerade wieder verboten?“. Man könnte von einer systematischen Entwertung der Eigenverantwortlichkeit sprechen – das ist das verfassungsrechtliche Grundproblem, über das wir uns vielleicht Gedanken machen sollten.

Besten Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen

Unbenannt

Das Interview ist auch im 

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Englische Übersetzung des Interviews ist in der 

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