"Impfen ist das wichtigste und einzige Mittel"

Prof. Dr. Susanne Herold

Prof. Dr. Susanne Herold

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Deutschland in der vierten Coronawelle: Infektiologin und Lungenspezialistin Susanne Herold, Mitglied der DFG-Kommission für Pandemieforschung, über die „Pandemie der Ungeimpften“, die „Impfpflicht für alle“, aktuelle SARS-CoV-2-Studien sowie Lehren in Sachen Gesundheitskommunikation.

Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.


 

Professorin Dr.med. Susanne Herold leitet den Schwerpunkt Infektiologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg. Zugleich ist sie seit 2018 Professorin für Infektionskrankheiten der Lunge. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Influenzaviren, Lungenentzündungen und Coronaviren.  

"forschung": Frau Professorin Herold, wir führen dieses Interview in der zweiten Dezemberwoche, mitten in der dramatischen vierten Pandemie- welle. Wie ist die Situation auf den Intensivstationen der Uniklinik Gießen?

Susanne Herold: Wir sind in der vergleichsweise guten Situation, dass die Inzidenz im Kreis Gießen momentan unter 200 liegt. Dennoch sind wir auf den Intensivstationen komplett ausgelastet und angespannt, weil die klinische Situation eine andere als in der zweiten oder dritten Welle ist. Wir betreuen jetzt weniger COVID-19-Patienten, können auch nur weniger betreuen, weil uns teilweise bis zu 25 Prozent der Intensivpflegekräfte im Haus fehlten. Wie auf vielen Intensivstationen arbeiten wir am Limit.

Wie haben sich unter der Delta-Virusvariante das Alter und vielleicht auch der Krankheitsverlauf Ihrer Coronapatienten verändert?

Die Patienten werden jünger, nicht weil Delta eine wesentlich andere Erkrankung machte, sondern weil in höheren Altersstufen mehr Menschen geimpft sind. Wir behandeln heute vorwiegend Ungeimpfte mittleren Alters. Kinder kommen, sofern sie keine Vorerkrankungen haben, selten. Die Krankheitsverläufe sind inzwischen etwas besser durch monoklonale Antikörpertherapien beeinflussbar, aber sie sind bei Weitem noch nicht gut.

Täuscht der Eindruck, dass zu Beginn der Pandemie die mit schweren COVID-Verläufen verbundenen lebensbedrohlichen Lungenprobleme die Wahrnehmung dominiert haben, inzwischen aber weitere Krankheitsfolgen für Gehirn, Gefäßsystem oder die Psyche der Erkrankten von sich reden machen?

Am klinischen Bild der Krankheit hat sich nichts geändert. Uns liegen inzwischen aber mehr Daten zum Symptomenkomplex Long Covid vor. SARS-CoV-2 ist primär eine Viruserkrankung der Lunge, weitere Organsysteme können aber ebenfalls betroffen sein. Auffällig ist, dass COVID-Infektionen sich von anderen virusinduzierten Lungeninfektionen wie der Influenzavirusinfektion unterscheiden. Die molekularen Grundlagen beginnen wir gerade erst zu verstehen.

Gibt es in der von Ihnen seit 2017 geleiteten Klinischen Forschungsgruppe über „Virusinduziertes Lungenversagen“ Erkenntnisse mit Blick auf SARS-CoV-2, die Sie überrascht haben?

Wir erforschen nicht erst seit Pandemiebeginn Coronaviren. Was uns in der aktuellen Klinischen Forschungsgruppe erstaunt hat, ist, dass es bei SARS-CoV-2 spezifische Signaturen gibt (d. h. ein spezifisches Entzündungsprofil in infizierten Zellen, aber auch im Gesamtorganismus, d.Red.), deren Auswirkungen auf das klinische Krankheitsbild beziehungsweise dessen Schwere noch unklar sind. Wir sehen, dass die überschießenden Immunantworten im Zuge von COVID-Erkrankungen anders sind als die bei Influenzavirusinfektionen. Da kommen auch die Makrophagen (d. h. Fresszellen und Leukozyten im Immunsystem, d.Red.) ins Spiel, die seit Langem zu meinen „Lieblingszellen“ als Forscherin zählen. Wir haben in der Forschungsgruppe darüber hinaus einige Fragestellungen und Teilprojekte auf SARS-CoV-2 ausgeweitet und arbeiten an translationalen Ansätzen – zum Beispiel an Vorstudien für ein immunmodulatorisches Medikament – und in mehreren klinischen Phase-2-Studien, die zum Ziel haben, die makrophagenbasierte Immunantwort zu verbessern und die Organreparatur nach dem Lungenschaden zu fördern.

Wie schätzen Sie das Gefährdungspotenzial von Omikron als Immune-Escape-Variante ein?

Es scheint mehr als 30 Mutationen beim Spike-Protein zu geben, dort, wo die Angriffspunkte für die Antikörper liegen, sodass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die durch Impfung oder eine durchlebte Infektion erworbenen Antikörper nicht gut funktionieren und man von einer eingeschränkten Immunität ausgehen muss. Im Immunsystem spielen aber – vereinfachend gesagt – nicht nur die Antikörperantworten eine bedeutsame Rolle, sondern auch unsere T-Zell-Immunität. Was dies für das Infektionsgeschehen zur Folge hat, ist Spekulation und erfordert weitere Daten. Generell aber sind viele Wissenschaftler darüber schon besorgt. Durch maximales Impfen und Boostern kommt es jetzt darauf an, die Ausbreitung von Omikron zu verlangsamen und auf die zeitnahe Verfügbarkeit eines angepassten Impfstoffs zu hoffen.

Ist aus Ihrer klinischen Sicht von einer „Pandemie der Ungeimpften“ zu sprechen?

Ja, zurzeit ist das absolut so.

Der nachlaufende Scheitelpunkt für die Intensivstationen wird für den Januar erwartet. Können die Impf- und Boosterkampagnen wie die Kontaktbeschränkungen die Hospitalisierungsrate noch abbremsen?

Wir erwarten tatsächlich durch die Kontakte über die Feiertage eine Zunahme der Neuinfektionen. Die Zahl der schwer Erkrankten und intensivpflichtigen COVID-Patienten hängt den Inzidenzen hinterher. Aber wir stellen fest: Die meisten Menschen – und das wird zu selten gesagt – halten sich an die Regeln. Ich sehe in meinem Umfeld, dass die Menschen wieder deutlich vorsichtiger geworden sind angesichts der erschreckenden Infektions- und Todeszahlen, sodass dies zusammen mit 2G-Regeln und einer Zunahme der Zweit- und Boosterimpfungen jetzt hoffentlich zu einer Entspannung der Lage führt und wir zumindest in eine anhaltende Plateauphase im Hinblick auf die Hospitalisierungszahlen kommen.

Worauf kommt es jetzt an?

Da greifen verschiedene Dinge ineinander beziehungsweise bedingen sich, auch regional: Zentral ist, dass die Impfrate schnell hochgebracht wird; ob die geplanten 30 Millionen Impfungen bis zum Jahresende erreicht werden, bleibt abzuwarten. Ich glaube, es war rückblickend ein Fehler, dass ab Sommer die Impfzentren geschlossen wurden und die Impfkampagnen nicht früher und konsequenter angetrieben wurden, als man feststellte, dass die Impfquoten unter 70 Prozent stagnierten. Impfen ist das wichtigste und einzige Mittel, die pandemische Situation hinter sich zu lassen, und natürlich müssen weiterhin die AHA-Regeln beachtet werden, auch bei steigender Impfrate. Am Ende wird es aber wieder auf die Einsicht und Vernunft jedes Einzelnen ankommen.

Warum gehörten Sie Mitte November zu den Mitunterzeichnern eines Brandbriefs von 35 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an die Politik?

Es gab klare wissenschaftliche Vorhersagen darüber, welche Entwicklung die Pandemie nehmen wird, die fast 1:1 eingetroffen sind. Es war klar, dass eine deutlich höhere Impfquote erreicht werden muss. Man hätte mehr Vorbereitungen treffen, eine vorausschauende Pandemie- politik betreiben müssen, was aber nicht geschah, weil es nicht opportun erschien.

Politische Beobachter vermuten, dass es seit dem Sommer 2021 eine Realitätsverweigerung und ein unbesorgtes Wunschdenken unter den politisch Verantwortlichen gab (Stichwort „Freedom Day“), verbunden mit dem Unwillen, unpopuläre Pandemiemaßnahmen in Wahlkampfzeiten und vor der Regierungsbildung zu treffen …

Ja, so sehe ich das auch. Das war auch mein Antrieb, dieses Papier zu unterzeichnen. Die Menschen sind nach fast zwei Jahren müde, zermürbt und sehnen sich nach Normalität – wenn dann das Ende der Pandemie proklamiert wird, fällt das auf fruchtbaren Boden.

Wie ist Ihre persönliche Haltung zur viel diskutierten Impfpflicht?

Ich habe mir nicht vorstellen können, dass wir in Deutschland derartige Schwierigkeiten haben, gute Impfquoten zu erreichen. Wir haben am 26. Dezember 2020 die ersten Impfdosen ans Klinikum Gießen ausgeliefert bekommen – und waren so dankbar und froh, gleich mit dem Impfen beginnen zu können. Seit dieser Zeit hat sich in der Wahrnehmung der Impfung einiges geändert. Ja, ich glaube, wir brauchen jetzt eine Impfpflicht, und zwar nicht nur berufsspezifisch für Krankenhäuser und Pflegeinrichtungen, sondern wir brauchen eine „Impfung für alle“.

Sie haben als Mitglied der DFG-Kommission für Pandemieforschung an dem Dossier „Mehr wissen, informiert entscheiden“ vom Januar 2021 mitgeschrieben. Muss eine aufklärerische Gesundheitskommunikation angesichts zermürbender Impf- und Impfstoffdebatten anders oder neu gedacht werden?

Man muss Kommunikation auf ganz verschiedenen Ebenen neu denken. Eine „lesson learned“ ist, dass die öffentliche und mediale Kommunikation zum Teil gescheitert ist. Und das hat nicht nur mit Faktenvermittlung, sondern auch viel mit Psychologie zu tun. Wir müssen in Studien untersuchen, wie Kommunikation verbessert werden kann. Wir gehen davon aus, dass mittlerweile nahezu jeder Bürger die wichtigen Fakten zum Impfen kennt. Weit gefehlt! Neben denjenigen, die wirkliche Gegner des Impfens oder entsprechender staatlicher Verordnungen sind, gibt es viele Menschen, die weder Fernsehen noch Zeitungen noch Social Media nutzen und aufgrund kultureller und sprachlicher Barrieren völlig unerreicht sind. Bei Visiten und im nachfragenden Gespräch mit ungeimpften COVID-Patienten am Krankenbett höre ich immer wieder: „Das wusste ich alles gar nicht – hätte mir das jemand so erklärt, hätte ich mich impfen lassen!“

Welche Lektion der Pandemie steht für Sie mit Blick auf 2022 im Vordergrund?

Wir brauchen in der Medizin bessere Forschungsinfrastrukturen, die Drittmittel längerfristiger vorhalten, länger als im Jahreshorizont, um schneller in Grundlagenforschung und Translation agieren zu können. Die kurzatmig zu stellenden Neu- und Folgeanträge kosten sehr viel Energie und Zeit – und sind ein großes Problem für klinische Studien. Und wir müssen weiter gezielt in die Grundlagenforschung investieren. Die mRNA-Impfstoffe wären ohne eine jahrzehntelange Grundlagenarbeit nicht möglich geworden.

Was ist Ihr pandemiebezogener Wunsch für das neue Jahr?

(lacht) Ich habe gleich mehrere! Mein Wunsch als Klinikerin und an die Menschen ist natürlich, jetzt die Chance zu ergreifen, sich noch zeitnah impfen zu lassen, bevor wir in eine neue Omikron-Welle laufen. Mein Wunsch an die Förderinstitutionen ist, dass einplanbare Mittel bereitgestellt werden, um Grundlagenforschung und translationale Forschung nachhaltig miteinander verbinden zu können. Und zum Schluss wünsche ich mir von der Politik, dass die Stimmen aus Wissenschaft und Klinik besser gehört und genutzt werden – auch für eine evidenzbasierte Pandemiepolitik.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Interview!

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Englische Übersetzung des Interviews ist in der 

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