„Dies ist für die DFG eine zutiefst unbequeme Wahrheit. Sie kann uns nicht loslassen, sie muss uns beklemmen, sie muss uns schmerzen.“ Mit diesen Worten kommentierte DFG-Präsident Matthias Kleiner die Ergebnisse der unabhängigen Forschungsgruppe zur „Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920–1970“, die nach siebenjähriger Arbeit am 30. und 31. Januar 2008 auf einer internationalen Abschlusskonferenz im Harnack-Haus in Berlin vorgestellt wurden.
Seit 2001 hatte die Forschungsgruppe unter der Leitung von Professor Rüdiger vom Bruch, Humboldt-Universität Berlin, und Professor Ulrich Herbert, Universität Freiburg, die Geschichte der größten Forschungsförderorganisation in Deutschland systematisch erforscht, angefangen von der Gründung der DFG unter dem Namen „Notgemeinschaft für die Deutsche Wissenschaft“ 1920 bis zur Reform des Hochschul- und Wissenschaftssystems in der Bundesrepublik Deutschland um 1970.
Die Initiative zur Einsetzung der Forschungsgruppe war 2000 vom damaligen DFG-Präsidenten Ernst-Ludwig Winnacker ausgegangen, nachdem sich die DFG, wie weite Teile der Gesellschaft insgesamt, zuvor über Jahrzehnte mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit schwergetan hatte. In fünf Arbeitsfeldern und 20 Einzelprojekten untersuchte die Forschungsgruppe die Geschichte der DFG als Institution sowie die Entwicklung der Organisation und der von ihr geförderten Forscher*innen und Projekte in der Medizin, den Geistes- und Sozialwissenschaften, den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie den Bio- und Lebenswissenschaften.
Haupttenor der Untersuchungen: Auch die DFG und die von ihr unterstützten Wissenschaftler*innen haben sich nach 1933 in hohem Maße und zu großen Teilen rückhaltlos in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellt. Dies begann bei der Vertreibung demokratischer und jüdischer Wissenschaftler*innen aus den Universitäten und aus der DFG und erreichte seinen grausamen Höhepunkt in den Menschenversuchen eines Josef Mengele in Auschwitz, die von der DFG mit Geldern und Apparaten gefördert wurden. Wissenschaft und Wissenschaftsförderung wurden im Dritten Reich von der Politik nicht in erster Linie instrumentalisiert oder missbraucht. Wissenschaft und Politik betrachteten sich als „Ressourcen füreinander“ (Mitchell Ash). Dabei standen den Wissenschaftler*innen in einem regelrechten Wettbewerb oft große Chancen für persönliches und wissenschaftliches Fortkommen offen – und wurden von ihnen als solche erkannt und genutzt. Die Indienststellung der Wissenschaft und der DFG für und unter das Regime fand in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht von Wissenschaft, Ideologie, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft, persönlichen Implikationen und institutionellen Rahmenbedingungen statt. Dabei zeigten sich je nach Fach unterschiedliche Entwicklungsmuster, so bei der Frage, ob die DFG mit ihrer Förderung während des Nationalsozialismus den wissenschaftlichen Fortschritt vorantrieb: Hier wurden in einzelnen Gebieten wie etwa der Krebsforschung Arbeiten gefördert, die nicht nur auf der Höhe der Zeit, sondern sogar innovativ waren. Auf anderen Feldern wie etwa dem wissenschaftlichen Rechnen ging der fachliche Fortschritt dagegen an der DFG und den von ihr unterstützten Wissenschaftler*innen vorbei. Und anderswo konnte es zeitweise nur darum gehen, sich rein ideologisch motivierten „obskuren“ Forschungen zu widersetzen.
Die Forschungsgruppe beschränkte sich jedoch nicht auf die Jahre von 1933 bis 1945, sondern erweiterte den Fokus auf den Zeitraum von 1920 bis 1970 und nahm damit Kontinuitäten und Brüche erst richtig in den Blick. So konnte sie belegen, dass die Symbiose von Wissenschaft und Politik nach 1933 ihren Anfang bereits nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs nahm, als die deutschen Wissenschaftler*innen die Krise des Staates mit der Krise der Wissenschaft gleichsetzten und den Dienst für die Nation zur obersten Pflicht der Wissenschaft erhoben. Für die Jahre nach 1945 konnte so gezeigt werden, dass die DFG zwar die Annäherung der bundesdeutschen Wissenschaft an den Westen mit vorantrieb, zugleich aber bis um 1970 ein Sammelbecken konservativer Vorstellungen und das „Reservat der Ordinarien und der Ordinarienuniversität“ blieb. „Auch dies muss uns nachdenklich stimmen“, so Kleiner.
Die Forschungsgruppe wurde von der DFG seit 2001 mit rund 5,5 Millionen Euro gefördert. Finanziert wurden damit neben den 20 Einzelstudien auch mehrere Tagungen sowie die Veröffentlichung der Ergebnisse in zwei Buchreihen, in denen bislang acht Monografien beziehungsweise Sammelbände erschienen sind. „Es hat mitunter Verwunderung ausgelöst, dass die Organisation, die Gegenstand einer Untersuchung ist, diese Untersuchung auch bezahlt“, sagte Kleiner dazu in Berlin: „Es war für uns jedoch selbstverständlich, dass damit keine Einmischungen oder gar Restriktionen verbunden waren.“ Die DFG habe vielmehr alles getan, um die Unabhängigkeit der Forschungsgruppe zu stärken – was auch die beiden Leiter Rüdiger vom Bruch und Ulrich Herbert herausstellten. Mit den so gewonnenen Erkenntnissen werde sich die DFG intensiv auseinandersetzen, versicherte Kleiner: „Wir wollen uns fragen, welche Schlussfolgerungen daraus für das künftige strategische Handeln der DFG gezogen werden können.“ So enthielten die Studien der Forschungsgruppe aufschlussreiche Aussagen etwa zum Verhältnis von Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen oder von wissenschaftsgetriebener und politikbestimmter Forschungsförderung. Hierbei müsse über den Zeitraum von 1920 bis 1970 hinaus aber auch die Entwicklung der DFG in der jüngsten Vergangenheit betrachtet werden. Vor allem aber seien die Ergebnisse der Forschungsgruppe eine „ständige Mahnung und hohe moralische Verpflichtung“. Dieser Verpflichtung wolle die DFG nachkommen.
Kleiner verwies in diesem Zusammenhang auf die von der DFG gestaltete Wanderausstellung zum „Generalplan Ost“, dessen Verwirklichung für Millionen Menschen Vertreibung und Vernichtung bedeutet hätte, sowie auf das 2006 eingeweihte Mahnmal im Garten der DFG-Geschäftsstelle in Bonn. Auf zwei schlichten Glasstelen sind dort zwei Dokumente zu sehen, die von der Mitschuld der deutschen Wissenschaft an den Gräueln des NS-Regimes sprechen – aber auch von der, so der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern, „großen und unverhofften Chance“, die diese Wissenschaft in einem freien Europa erhalten habe. „Diese Chance wollen wir nutzen“, unterstrich der DFG-Präsident.