Reform des Begutachtungswesens der DFG im Jahr 2003

Geschichte und System

Nahezu alle Institutionen der Forschungsförderung auf der Welt stützen ihre Entscheidungen über Anträge auf eine wissenschaftliche Begutachtung der vorgeschlagenen Projekte durch sachverständige Kolleg*innen ("peer review"). Doch die Verfahren variieren stark. Das frühere Begutachtungsverfahren der DFG war weltweit einmalig und ging in seinen wesentlichen Bestandteilen auf den Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber zurück, der an der Gründung der Vorgängereinrichtung der DFG, der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft [seit 1929 Deutsche Forschungsgemeinschaft], im Jahr 1920 maßgeblich beteiligt war.

Das zentrale Entscheidungsgremium der Notgemeinschaft hieß (wie heute in der DFG) "Hauptausschuss". Die wissenschaftliche Begutachtung der Förderanträge war "Fachausschüssen" anvertraut. Diese wurden für alle großen Fachgebiete eingerichtet; sie gliederten sich in Fächer. Für jedes Fach wurden aufgrund von Vorschlagslisten, die die jeweils zuständigen wissenschaftlichen Fachgesellschaften aufstellten, zwei Gutachter*innen ("Fachgutachter*innen") gewählt, und zwar in geheimer Wahl von allen aktiven Gelehrten der jeweiligen Fächer in Universitäten, Technischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (Nachwuchswissenschaftler*innen erhielten erst in der nach dem Zweiten Weltkrieg neu gegründeten DFG das aktive Wahlrecht).

Die beiden zentralen Merkmale des Begutachtungssystems der Notgemeinschaft waren mithin

  • die Gliederung der gesamten Wissenschaft in Fachausschüsse und Fächer und
  • die Wahl der Gutachter*innen durch die Gemeinschaft der aktiven Wissenschaftler*innen.

Wichtig war die strikte Trennung von Beurteilung und Entscheidung. Zu jedem Antrag sollten sich zwei Fachvertreter*innen unabhängig voneinander äußern. Dem oder der Vorsitzenden des Fachausschusses oblag es dann, nach Würdigung beider Voten, einen Entscheidungsvorschlag zu formulieren. Der Hauptausschuss konnte sich bei seiner unabhängigen Entscheidung auf diese fachliche Beurteilung stützen.

Bei der erneuten Gründung einer Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Jahr 1949 wurde dieses System praktisch unverändert übernommen und ging 1951 in die Deutsche Forschungsgemeinschaft über. Der Hauptausschuss, zuständig für alle finanziellen Entscheidungen, wurde auf eine unparteiliche Abwägung der Bedürfnisse der einzelnen Fächer verpflichtet. Bei seinen Entscheidungen sollte er die Vorschläge der (Fach-)Ausschüsse "nach Möglichkeit [...] beachten". Er blieb auch nach 1951 für die Bildung der Fachausschüsse und ihre Gliederung in Fächer zuständig. Diese wurde im Rhythmus der Wahlperioden der Fachausschüsse aktualisiert und nach Beschlussfassung im Hauptausschuss der Mitgliederversammlung zur Bestätigung vorgelegt (§ 4 Nr. 6 der damaligen Fassung der Satzung: Die Mitgliederversammlung bestätigt die Fachausschüsse).

Auch das Wahlverfahren blieb in allen wesentlichen Punkten so, wie es in der alten Notgemeinschaft angelegt worden war. Wahlvorschläge wurden von den wissenschaftlichen Fachgesellschaften erbeten, denen der Hauptausschuss jeweils das Vorschlagsrecht verlieh.

Veränderungen seit 1951

Im Jahr 1951/52 entschied die DFG über rund 1900 Anträge, sämtlich im Rahmen der Einzelförderung, die in den Folgejahren den Namen "Normalverfahren" erhielt. Im Jahr 2001 waren es bereits etwa zehnmal mehr.

Schon ab 1952/53 nutzte die DFG jedoch ein Angebot der Bundesregierung, ihr zur Stärkung der Universitäten in ausgewählten Fächern Sondermittel zu gewähren, und führte die Schwerpunktprogramme ein. Anträge in Schwerpunktprogrammen wurden seit Beginn ihrer Förderung von Prüfungsgruppen beurteilt, also Gruppen von im jeweiligen Gebiet sachverständigen Wissenschaftler*innen, die von der Geschäftsstelle in Konsultation mit den gewählten Mitgliedern der Gremien der DFG einschließlich der Fachausschüsse ausgewählt wurden. Diese Auswahl musste (abgesehen vom immer geltenden Erfordernis der fachlichen Kompetenz für das jeweilige Wissenschaftsgebiet, sei es disziplinär oder interdisziplinär) berücksichtigen, dass in der Prüfungsgruppe niemand mitwirken durfte, der selbst einen Antrag in dem Programm stellte, grundsätzlich auch keine Fakultäts- oder gar Institutskollegen der Antragsteller*innen. Auch die dadurch nicht erfassten, weniger sichtbaren Formen der Befangenheit mussten ausgeschlossen sein. Das führte von Anfang an dazu, dass in Prüfungsgruppen zwar gewählte Fachgutachter*innen mitwirken konnten, aber je nach Sachlage nicht mitwirken mussten. Im Jahr 1999 lag ihre Beteiligung an Prüfungsgruppen der Schwerpunktprogramme bei rund 17 Prozent aller beteiligten Gutachter*innen; demgegenüber arbeiteten rund 23 Prozent der Mitglieder von Prüfungsgruppen im Ausland. Ähnlich entwickelte sich die Praxis der Begutachtung in den weiteren im Lauf der Zeit eingeführten neuen Förderinstrumenten, zum Beispiel

  • Forschergruppen seit 1960
  • Sonderforschungsbereiche (SFB) seit 1968
  • Graduiertenkollegs seit 1990
  • Geisteswissenschaftliche Zentren seit 1995
  • DFG-Forschungszentren seit 2000

Der Anteil der gewählten Fachgutachter*innen an den Gutachtergruppen in diesen Förderverfahren lag im Jahr 1999 für die Graduiertenkollegs bei 32 Prozent, für die Forschergruppen bei 24 Prozent und für die Sonderforschungsbereiche bei 19 Prozent. Grundsatz für die Auswahl der Gutachter*innen in allen diesen Verfahren durch die Geschäftsstelle (in Abstimmung mit den gewählten Mitgliedern der Gremien) war, wie in allen vergleichbaren Ländern üblich, die Qualifikation zur Beurteilung des jeweiligen Vorhabens, verbunden mit der Gewähr für ein neutrales und ausgewogenes Urteil. Bei den Begutachtungen, die mit Ortsterminen verbunden waren (SFB, Forschergruppen, Geisteswissenschaftliche Zentren), war daneben die zeitliche Verfügbarkeit im Sinne der Bereitschaft und der Möglichkeit, den gemäß allen Randbedingungen ausgewählten Termin auch einzurichten, ein wichtiger limitierender Faktor. Gerade diejenigen gewählten Fachgutachter*innen, die im schriftlichen Verfahren besonders häufig gehört wurden, sahen sich oft nur in begrenztem Ausmaß in der Lage, zusätzlich mehrtägige Reisen zu Gutachtersitzungen zu unternehmen.

Zugleich nahm die Zahl der nicht gewählten Spezialisten ("Sondergutachter*innen"), die im schriftlichen Verfahren zu einzelnen Anträgen um Stellungnahmen gebeten werden mussten, ebenfalls zu - oft auf Anregung der gewählten Fachgutachter*innen selbst. Der wesentliche Grund dafür lag in der fortschreitenden Spezialisierung in vielen Wissenschaftsgebieten. Sie verlief in den einzelnen Gebieten unterschiedlich rasch, was sich an Indikatoren wie der Bildung neuer Zeitschriften und wissenschaftlicher Fachgesellschaften ablesen ließ. Dementsprechend war auch der Anteil der Sondergutachter*innen, die für die DFG im schriftlichen Verfahren tätig waren, nach Fachgebieten recht unterschiedlich. Insgesamt schrieben im Jahr 1999 rund 5300 Sondergutachter*innen etwa gleich viele Stellungnahmen, wie sie von gewählten Fachgutachter*innen erstattet wurden. Die Tatsache, dass sie in der Regel wegen ihrer spezifischen Kompetenz für einzelne Anträge konsultiert werden, zeigte sich auch darin, dass weit mehr als die Hälfte der konsultierten Sondergutachter*innen (58 Prozent) nur ein einziges schriftliches Gutachten abgegeben hat.

Eine letzte wichtige Veränderung seit der Wiedergründung der DFG im Jahr 1951 betraf den Wettbewerb um die Fördermittel. Einerseits verfügte die DFG inzwischen über weitaus mehr Geld, andererseits waren die Chancen eines Antrags auf Förderung aber gesunken. Im Jahr 2001 blieben allein in der Allgemeinen Forschungsförderung (vor allem Normal- und Schwerpunktverfahren und Forschergruppen) über 6500 Anträge erfolglos. Für Sachbeihilfen im Normalverfahren wurden im Jahr 2001 noch rund 34,9 Prozent der beantragten Mittel bewilligt. Die Auslese der Projekte, für die nach Berücksichtigung aller Gesichtspunkte eine Förderung vorgeschlagen wurde, lag, wie schon 1951, ganz in den Händen gewählter Fachgutachter*innen, in aller Regel der Vorsitzenden der Fachausschüsse und ihrer gewählten oder einvernehmlich bestimmten Stellvertretungen. Von ihnen wurde demgemäß auch die Qualität des gesamten Begutachtungsverfahrens gesichert, indem sie in ihrer abschließenden Stellungnahme die vorangehenden Gutachten (und im Bedarfsfall auch die Gutachter*innen) würdigen und erforderliche Korrekturen veranlassen können. Jedoch wurde die abschließende Bewertung der Anträge und die Auslese der besten zur Förderung immer weniger allein wahrgenommen. Ein zunehmender Teil der Anträge wurde, ehe der Hauptausschuss die definitive Entscheidung traf, in Gruppen, in aller Regel von mehreren Gutachter*innen (bis hin zu "panels" oder "study sections", wie sie bei der National Science Foundation (NSF) oder bei den National Institutes of Health (NIH) üblich sind) mit dem Ziel verglichen, unter den als förderungswürdig beurteilten Anträgen diejenigen zu identifizieren, die tatsächlich finanziert werden sollen.

Zusammenfassend wies die Praxis der Begutachtung in der DFG gegenüber dem Beginn der fünfziger Jahre, als die geltende Satzung erneut (nach dem Muster von 1920) niedergeschrieben wurde, wesentliche systematische Veränderungen auf:

  • die zehnfach höhere Zahl der Anträge,
  • das Hinzukommen einer großen Zahl neuer Förderinstrumente, die mehrheitlich auf kooperative Forschung und/oder auf Strukturbildung in Disziplinen/Arbeitsgebieten oder Institutionen ausgerichtet sind,
  • die Begutachtung der meisten Anträge in "koordinierten" Förderverfahren und vieler Einzelanträge durch Gutachtergruppen,
  • die (in den Wissenschaftsgebieten unterschiedlich stark ausgeprägte) Spezialisierung mit der Folge, dass ein insgesamt abnehmender Teil aller Anträge allein durch die jeweils amtierenden gewählten Fachgutachter*innen auf dem geforderten einheitlichen Niveau fachlicher Kompetenz für den jeweiligen einzelnen Antrag beurteilt werden konnte,
  • die Intensivierung des Wettbewerbs mit der Konsequenz, dass immer häufiger bei den Einzelanträgen zwischen die Beurteilung (unter fachlichen Gesichtspunkten) und die Entscheidung (unter Einbeziehung finanzieller, programmatischer und anderer Gesichtspunkte) als Zwischenschritt die Bewertung im Vergleich mit um die gleichen Fördermittel konkurrierenden Anträgen desselben (größeren) Fachgebiets treten musste.

Ziele und Umsetzung der Reform

Die Praxis des Begutachtungsverfahrens der DFG bis 2003 hatte zahlreiche wesentliche Vorteile, die es zu bewahren galt. Dass neben die Legitimation der gewählten Fachgutachter*innen der DFG in einem jahrzehntelang sich entwickelnden Prozess stillschweigend die Legitimation durch Kompetenz getreten war, wurde nicht nur von den Gewählten selbst, sondern auch von der Wissenschaft mit großer Mehrheit akzeptiert: Das Begutachtungswesen der DFG galt im nationalen Vergleich als unübertroffen und im internationalen Vergleich in seiner Qualität als gut konkurrenzfähig. An der Auswahl der Sondergutachter*innen durch die Geschäftsstelle, die international üblich war und die bei der DFG, soweit irgend möglich, nach internationalen Usancen und Maßstäben geschah, wurde eher seltener Kritik geübt als bei Partnerorganisationen der DFG im Ausland. Die Internationale Kommission zur Evaluation der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft hatte mit ihrem Hinweis, dass künftig nach Möglichkeit mehr jüngere Gutachter*innen und noch mehr solche aus dem Ausland gehört werden sollten, indirekt dazu aufgefordert, den Anteil der nicht durch Wahl, sondern "nur" durch Kompetenz legitimierten Sondergutachter*innen noch zu erhöhen.

Auf der anderen Seite gab es damals Schwächen, die nach Möglichkeit überwunden werden sollten: Die Qualitätssicherung der Begutachtung, die im Wesentlichen der Erfahrung der gewählten Fachgutachter*innen, vor allem aber der Vorsitzenden der Fachausschüsse und ihrer schon lange in den meisten Fächern funktional zu gleichrangigen Kolleg*innen umgewandelten Stellvertretungen zu verdanken war, war über die Verfahren der DFG uneinheitlich: rund ein Drittel aller Schwerpunktprogramme, Forschergruppen und Sonderforschungsbereiche wurden im Jahr 1999 ohne Beteiligung gewählter Fachgutachter*innen begutachtet. Andererseits hatten die Vorsitzenden großer Fachausschüsse mit teilweise über 500 Stellungnahmen pro Jahr allein für die DFG (zu denen typischerweise Gutachten für Zeitschriften, Berufungen, Habilitationen etc. in ähnlichem Umfang hinzukammen) Grenzen der Belastbarkeit erreicht und überschritten.

Ein Punkt, den namentlich die Internationale Kommission zur Evaluation der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft kritisch beleuchtet hatte, war die Kleinteiligkeit und insgesamt wenig zeitgemäße Gliederung der Fachausschüsse der DFG. Die Kleinteiligkeit führte mitunter zur Gefahr extrem kleiner Vergleichskohorten und einer Provinzialisierung der Maßstäbe (für die wiederum die Heranziehung von Sondergutachter*innen eines der Gegenmittel war), aber auch immer wieder zur Gefahr lediglich additiver Stellungnahmen zu interdisziplinären Projekten, die jedoch nur aus der Zusammenschau der Beiträge unterschiedlicher Disziplinen durch solche Forscher*innen angemessen beurteilt werden konnten, die schon selbst vergleichbar interdisziplinär gearbeitet hatten.

Senat und Hauptausschuss der DFG waren der Auffassung, dass eine Reform, wenn sie in Angriff genommen würde, auch die mitgliedschaftliche Organisation der DFG in ihrem Einfluss auf die Wahlen der Gutachter*innen, sowie das Verhältnis von Senat und Hauptausschuss, das im Rahmen der Reform der Gremienstruktur ohnehin neu bestimmt würde, einbeziehen sollte. Ein wichtiger Wunsch war auch die Zusammenfassung des aktiven Wahlrechts mit der Antragsberechtigung bei der DFG, das heißt die Aufhebung der geltenden dreijährigen "Wartezeit" zwischen der Promotion und der Verleihung des aktiven Wahlrechts.

Folgende Ziele für die Reform wurden definiert:

  • Die zentrale Stellung der durch Wahl legitimierten Gutachter*innen im System der DFG sollte gestärkt werden, indem ihr Einfluss verpflichtend auf alle Förderverfahren (einschließlich der Mitwirkung in Prüfungsgruppen) erstreckt und ihre Mitwirkung dort konzentriert wurde, wo sie für die Förderentscheidung am wirksamsten war, nämlich bei der Bewertung der Anträge (in der Regel heute im Vergleich zueinander). Damit für diese Aufgabe, die weiterhin im Ehrenamt wahrzunehmen war, genügend Raum bliebe, sollen sie im Gegenzug von der fachlichen Beurteilung der einzelnen Anträge entlastet werden.
  • Den gewählten Gutachter*innen fiele damit mehr von den Aufgaben der Vorsitzenden der Fachausschüsse und ihrer Stellvertretungen zu. Damit würden deren Pflichten auf mehr Schultern verteilt, was dringend erforderlich war.
  • Die Struktur der Fachausschüsse sollte über einen längeren Zeitraum zeitgemäßer, aber auch schon kurzfristig deutlich flexibler gestaltet werden. Die Wechselwirkung zwischen den (künftig zwecks Unterscheidung vom heutigen System "Fachkollegien" genannten) Ausschüssen sollte verstärkt, die Befassung von Mitgliedern aus mehreren von ihnen erleichtert werden.
  • Die Erfahrung der Fachkollegien und ihrer Mitglieder sollte systematisch in neue "strategische" Überlegungen der DFG zur Verbesserung ihrer Instrumente, aber auch der Prioritäten ihrer Förderung, eingebracht werden.
  • Da die Reform der Struktur nicht sofort und in einem Arbeitsgang zu verwirklichen war, und da es sich hierbei um eine Angelegenheit der wissenschaftlichen Selbstverwaltung im engsten Sinne handelte, sollte die Zuständigkeit vom Hauptausschuss auf den Senat der DFG übergehen.

Entsprechend diesen Zielen wurde die Satzung der DFG geändert und von der Mitgliederversammlung verabschiedet. Die ersten Mitglieder der Fachkollegien wurden im Herbst 2003 gewählt und haben mit ihren konstituierenden Sitzungen im Frühjahr 2004 ihre Arbeit aufgenommen. Damit endete gleichzeitig die letzte Amtsperiode der früheren Fachausschussmitglieder.