„In Amerika gewesen“: Deutsche Forschende in den USA und Kanada im Gespräch

Nikolaus Jahn

Nikolaus Jahn

© Privat

(23.08.22) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert mit dem Forschungsstipendium und dem Walter Benjamin-Stipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zu einem kleineren Teil auch in Kanada wahrgenommen, Ausdruck einer in vielen Disziplinen und in besonderem Maße in den Lebenswissenschaften herrschenden Überzeugung, dass es hilfreich für die Karriere sei, „in Amerika gewesen“ zu sein. In einer Reihe von Gesprächen möchten wir Ihnen einen Eindruck von der Bandbreite der DFG-Geförderten vermitteln. In dieser Ausgabe schauen wir, wer sich hinter der Fördernummer JA 3110 verbirgt.

DFG: Lieber Herr Dr. Jahn, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit dem Nordamerika-Büro der DFG nehmen. Ihr DFG-Aktenzeichen klingt mit „JA“ ausgesprochen positiv, Ihr Vorname Nikolaus könnte zumindest in katholischen Gegenden am 6. Dezember Erwartungshaltungen zur Folge haben und Ihr Lebenslauf verzeichnet ein Abitur am jesuitisch geführten Kolleg St. Blasien im Schwarzwald. Klären Sie uns doch bitte auf.

Nikolaus Jahn (NJ): Herzlichen Dank für diese Gelegenheit zu einem Gespräch und insbesondere für die derzeitige Förderung, die mich hier an der Westküste der USA derzeit wissenschaftlich sehr weiterbringt und mich darüber hinaus links und rechts der Wissenschaft bereichert. Das mit dem Geschäftszeichen war mir gar nicht so bewusst, vielen Dank für den Hinweis, aber das war nicht der Grund, warum es mich an die US-amerikanische Westküste gezogen hat, der wohl – entschuldigen Sie bitte den unsinnigen Superlativ – „positivsten“ Region in der westlichen Welt.

So recht weiß ich gar nicht, warum mich meine Eltern Nikolaus genannt haben. Ich vermute mal, dass die einfachste Erklärung die naheliegendste ist: Sie fanden den Namen sehr schön – ohne ihm tiefere Bedeutung einzuräumen; vielleicht ja auch zu Ehren des Bischofs von Myra. Jedenfalls war mein Vorname im sozialen Umfeld meiner Kindheit und Jugend nicht immer ganz einfach – wie man sich vorstellen kann. Die vielen Witze habe ich aber längst vergessen und mittlerweile schätze ich meinen Namen sehr.

Ja, das Kolleg St. Blasien ist in der Tat etwas ungewöhnlich, zumal es eine Internatsschule ist. Mein Vater war dort vor vielen Jahren bereits Schüler. Die Erfahrungen dort haben ihn so nachhaltig geprägt, dass meine Eltern und ich uns nach den ersten vier Jahren Gymnasium in München für meinen Wechsel dorthin entschieden haben, um mir eine optimale Ausbildung zu ermöglichen. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.

Skifahren in Lake Tahoe

Skifahren in Lake Tahoe

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DFG: Bei vielen Menschen erzeugt das Stichwort Internat Assoziationen mit Harry Potter oder Filmen wie „Dead Poet’s Society“ (Club der toten Dichter). Dessen Motto lautete: Carpe diem, also „nutze den Tag”, oder etwa weiter gefasst, „nutze Deine Lebenszeit”! Wie sieht so eine Verdichtungsstätte von Bildung von innen aus?

NJ: Generell gibt es sicherlich viele Vorurteile gegenüber Internaten. Die sind leider weniger von Hogwarts, dafür häufig von anderen Extremen geprägt: Heim für Schwererziehbare oder Abschiebeort für Kinder reicher Eltern, damit sich diese nicht mehr selbst kümmern müssen. In den allermeisten Fällen ist die Realität aber eine ganz andere. Und am Kolleg St. Blasien – übrigens eine wunderschöne, ehemalige benediktinische Klosteranlage im Südschwarzwald – gab es einfach ein ideales Ausbildungsumfeld: hochmotivierte Lehrer, geregelte Studierzeiten, auch Samstagsunterricht. Wobei ich letzteres damals natürlich eher kritisch gesehen habe. Dazu viele extrakurrikuläre Angebote, darunter viel Sport und Musik. Und das alles eben in einem christlich-jesuitisch Wertekontext, der nicht nur akademische Leistungen wert legt, sondern auch auf die Bildung von Persönlichkeit. Darüber hinaus lernt man im Internat sehr gut, wie Gemeinschaft funktioniert: Einerseits gibt es ja nichts Schöneres als mit den engsten Freunden rund um die Uhr zusammen zu sein, Erlebnisse zu teilen und auch mal Grenzen auszutesten. Und andererseits kann die Enge auch eine Herausforderung sein. Da kann man schon einmal auf die Schnauze fliegen. Gemeinsam lachen und weinen – das schweißt natürlich ungemein zusammen und lässt so eine Art erweiterter Großfamilie entstehen. Viele Beziehungen aus dieser Zeit sind mir erhalten geblieben und so sind meine Trauzeugen ebenfalls Alumni des Kolleg St. Blasien.

DFG: Nach dem Abitur und Studium an der Medizinische Universität Wien sind Sie an die Uniklinik Ulm für Ihre Weiterbildung zum Hämato-Onkologen gegangen? Warum gerade Krebs?

NJ: Krebs ist ‚evolution in a nutshell‘ und daher biologisch so faszinierend. Jeder Tumor geht ursprünglich auf eine einzige Zelle zurück, die meistens durch reinen Zufall eine genetische Veränderung erwirbt, die ihr gegenüber gesunden Zellen einen Wachstums- oder Überlebensvorteil verleiht. Diese teilt sich dann in Tochterzellen, die untereinander um limitierte Ressourcen, also etwa Nährstoffe oder Sauerstoff, konkurrieren. Sie unterliegen aber auch anderen äußeren Faktoren – wie etwa dem Mikroumfeld, dem Immunsystem, das die Tumorzellen attackiert, oder natürlich auch Therapien, wenn der Krebs behandelt wird. Dieser konstante Selektionsdruck nach Darwin’schem Modell erfordert und fördert konstante Anpassung durch neue genetische Veränderungen. Viele Menschen haben die Vorstellung von Krebs als relativ homogenem Gebilde. Aber vielmehr ist es so, dass durch Selektion aus dem ursprünglichen Tumor – zeitgleich oder zeitversetzt – neue Klone mit teils völlig unterschiedlichen, neuen Eigenschaften hervorgehen. So kann es zum Beispiel sein, dass bei einem Prostatakarzinom derselben Person eine Knochenmetastase nur noch entfernt mit der gleichzeitig vorliegenden Hirnmetastase verwandt ist – also eher Cousine zweiten Grades als Schwester. Und nicht selten sieht man daher leider, dass Metastasen auf die gleiche Therapie sehr unterschiedlich ansprechen. Das macht das Verständnis von Tumorevolution für die Entwicklung von neuartigen Therapiekonzepten so essenziell und spannend.

Hinzu kommt, dass die Onkologie aktuell nicht relevanter sein könnte: Einerseits haben wir demographisch eine immer älter werdende Gesellschaft und damit natürlich eine Zunahme an krebserkrankten Patientinnen und Patienten. Anderseits erlebt die Branche einen Innovationsboom: Technologiesprünge wie Hochdurchsatz-Sequenzierung oder die CRISPR/Cas-basierte Genschere, die dem Krankheitsverständnis und der –modellierung dienen, aber auch neuartige Therapien mit gezielt-gerichteten sog. ‚small molecules‘ oder Immuntherapien wie Checkpoint Inhibitoren oder CAR-T-Zellen. Ich erinnere mich, dass noch vor gar nicht allzu langer Zeit Therapiestudien sich eher mit Dosierungen, Intervalldauern oder Kombination von Zytostatika beschäftigen mussten – also lediglich mit sehr inkrementellen Verbesserungen. Und auf einmal sehen wir wieder disruptive, innovative Ansätze. Klar, es kommen auch neue Herausforderungen hinzu, zum Beispiel die Frage nach ethisch-moralisch Leitfäden beim Einsatz bestimmter Therapien oder auch die Frage nach der Verteilung von Ressourcen. Insgesamt ist es natürlich immer noch ein weiter Weg, aber ich spüre schon einen neuen Optimismus.

Vor einem Giant Sequoia im gleichnamigen Nationalpark

Vor einem Giant Sequoia im gleichnamigen Nationalpark

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DFG: Lassen Sie uns über Ihre Forschung sprechen: In einem Ende 2019 in Science veröffentlichten Paper von Professor Jaiswal und Professor Benjamin Ebert zu klonalen Veränderungen der blutbildenden Zellen im Menschen heißt es: „Time is not a friend to our DNA.“ Eigentlich hören wir das ja nicht so gerne, dass jemand nicht unser Freund ist, aber können wir wenigstens therapeutische Erkenntnisse aus dieser schlechten Nachricht ziehen?

NJ: Noch nicht. Aber prinzipiell liegt dem die Erkenntnis zugrunde, dass wir unseren genetischen Code zwar von Geburt an geerbt haben, dieser aber dynamisch ist und sich mit dem Altern punktuell verändert. Für diesen Prozess des steten Wandels und der Entstehung distinkter Zellpopulationen in unserem Körper durch neuauftretende genetische Veränderungen hat sich der Begriff vom somatischen Mosaizismus etabliert. Die mitunter wichtigste Manifestation hiervon können wir im Blut finden – ein Phänomen, das wir CHIP nennen. Längerfristig kann CHIP Ursache einer Vielzahl verschiedener Krankheiten sein und geht mit einer erhöhten Sterblichkeit einher. Dieses Paradigma ist so etwas wie eine biologische Revolution.

DFG: Und für eine Revolution muss sich der Deutsche erst einmal eine Zugangskarte für den Bahnsteig kaufen, oder?

NJ: Nicht nur das und nicht nur die Deutschen. Aber lassen Sie mich auf einen für mich zentralen Aspekt dieser Revolution eingehen, das bereits genannte „CHIP“ Phänomen. Die Abkürzung haben wir oben schon auf Deutsch aufgelöst, steht aber für Clonal Hematopoiesis of Indeterminate Potential und Folgendes ist damit gemeint: Der Mensch hat etwa 200.000 sogenannter Blutstammzellen, Zellen also, die für die Blutbildung (Hämatopoese) verantwortlich sind. Mit der Zeit kommt es in diesen Zellen rein zufällig zu Mutationen; je mehr Zeit, desto mehr Mutationen. Viele von ihnen bleiben folgenlos, aber manchmal resultiert daraus ein Evolutionsvorteil der mutierten Blutstammzelle – und das ist nicht unproblematisch. In diesen Fällen führt das dann dazu, dass sich diese Zelle überproportional ausbreitet und irgendwann ein Großteil aller Blutzellen auf diese eine ursprünglich mutierte Zelle zurückgehen. Daher klonale Hämatopoese. Heute wissen wir, dass circa jeder Fünfte über dem 70. Lebensjahr davon betroffen ist. Da CHIP eine Krebsvorstufe ist, haben alle jene auch ein etwas erhöhtes Risiko, an Blutkrebs zu erkranken. So weit, so offensichtlich. Aber was uns anfangs ziemlich überrascht hat, ist die Tatsache, dass das erhöhte Sterblichkeitsrisiko bei CHIP nicht auf Blutkrebs, sondern vor allem auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen – also Herzinfarkte oder Schlaganfälle – zurückzuführen ist. Und tatsächlich haben Studien mittlerweile mechanistisch zeigen können, dass aus den mutierten Blutstammzellen gestörte, überaktive Immunzellen hervorgehen können, die Atherosklerose in Blutgefäßen begünstigen.

Die Besonderheit an Blut ist eben, dass es, anders als andere Organe, keine räumlichen Grenzen kennt. Im Falle von CHIP hat dies weitreichende Implikationen. Wir beginnen langsam, erste mögliche Zusammenhänge mit anderen Erkrankungen des Alters, wie beispielsweise Alzheimer oder Typ 2 Diabetes, zu verstehen. CHIP zeigt, wie eng alles in einem Organismus miteinander verflochten ist. Wenn es uns gelänge, die jeweils relevanten Mechanismen zu identifizieren, könnte man therapeutisch präventiv eingreifen, also bevor es überhaupt zu Symptomen kommt. Dieses weit über die Onkologie hinausweisende Potential lässt die Fachwelt daher von „Revolution“ schwärmen.

Vor der Golden Gate Bridge

Vor der Golden Gate Bridge

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DFG: Wie stehen denn da realistisch betrachtet die Chancen?

NJ: Realistisch kann ich das nicht betrachten, dazu bin ich zu sehr involviert. Aber ich kann Sie auf die Einschätzung von Menschen verweisen, die auf den Erfolg der „Revolution“ finanziell ‚wetten‘. Wie zu jeder Revolution, gehören auch zu dieser einige Köpfe und das sind in meinem Gesichtskreis neben Sidd Jaiswal vor allem Alex Bick von der Vanderbilt University und Benjamin Ebert und Pradeep Natarajan von der Harvard Medical School, um nur einige wenige Namen zu nennen. Die Chancen sind recht hoch, dass Sie einen oder mehrere dieser Namen unter den Preisträgern renommierter internationaler Auszeichnungen der kommenden zehn Jahre finden werden. Kurzfristiger, also für den Horizont von fünf Jahren, kann man Chancen auch an den Summen von Risikokapital erkennen, die sich hinter neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den damit verbundenen Köpfen versammeln. Sie sind ein gutes Indiz dafür, für wie wegweisend der Wissensfortschritt auch aus ökonomischer Perspektive gehalten wird.

DFG: Bei den Wetten des Risikokapitals gibt es aber auch Fehlschläge und sogar Betrug, wie wir zuletzt am Fall Elizabeth Holmes gesehen haben. Wie geht man damit um?

NJ: Frau Holmes, die Gründerin von Theranos, hat sehr viel Geld für eine vielleicht für Laien vielversprechende, ja revolutionäre Geschäftsidee einsammeln können, nämlich aus einem einzigen Bluttropfen schnell, billig und bequem sämtliche relevanten Blutuntersuchungen machen zu können. Von vielen Experten ist sie dafür meines Wissens von Anfang an mit großer Skepsis beäugt wurden. Generell war wahrscheinlich aber der Wunsch beim ‚next big thing‘ dabei zu sein so groß, dass man wohl die vielen ‚red flags‘ nicht sehen wollte. Naja, hinterher sind alle immer klüger. Jedenfalls scheint das wohl das grundlegende Problem gewesen zu sein und weniger die Risikokapital-Kultur des Silicon Valley insgesamt. Mit Risikokapital ist ja nicht blindes Kapital gemeint, wie man es an Lotteriebuden einsammelt. Da sollte schon genügend Expertise in den Firmen sitzen, dass am Ende des Tages nicht alles Geld verbrannt ist, sondern aus dem Portfolio unterschiedlichster Risiken ein paar Ideen und Startups übrigbleiben, die den ganzen Venture Capital (VC) Fund überlebensfähig und sogar profitabel machen. Und wie bereits erwähnt, sind die Köpfe, in die investiert wird, ein sehr wichtiger Aspekt bei den Investitionsentscheidungen. Das sind Menschen mit entsprechenden Track Records wie zum Beispiel Jaiswal und Ebert, die sich aus Harvard kennen und die jetzt auf Grundlage ihrer wegweisenden Erkenntnisse in der ersten VC-Runde (Series A) 40 Mio. $ für ein neugegründetes und „TenSixteen Bio“ genanntes Unternehmen eingesammelt haben. Das ist schon ein sehr deutlicher Vertrauensbeweis von mit Lebenswissenschaften vertrauten Risikokapital-Gebern, dass diese Erkenntnisse innerhalb von sagen wir mal fünf Jahren zu vermarktbaren Therapien führen. Dazwischen liegen dann noch weitere VC-Runden, denn „bench to bedside“, also die Umsetzung neuer Erkenntnisse in für Patienten nutzbare Therapien oder Diagnoseverfahren, ist mit nicht zu bewältigen. Doch sind die 40 Mio. $ der ersten Finanzierungsrunde schon ein deutliches Zeichen der Zuversicht, dass es erfolgreich wird.

DFG: Wäre das auch in Deutschland möglich, oder, anders gefragt: Was macht denn das besondere Klima in den USA aus, dass hier die führenden Köpfe schneller und erfolgreicher ausgründen als in Deutschland, wo es doch auch hervorragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt?

NJ: Wenn es nur das bessere Wetter wäre, würde Boston/Cambridge in derselben Liga spielen wie Bonn oder Heidelberg und Stanford und die Bay Area im sonnigen Kalifornien eben in einer anderen. Wir sollten vielmehr über das Klima an den Orten der Wissenserzeugung reden, über die Internationalität der Labs, die Interdisziplinarität, den Optimismus, die Begeisterungsfähigkeit, die wahrscheinlich flacheren Hierarchien. Aus aller Welt strömen Menschen nach Stanford, die alle der Wunsch eint, Forschung und Lehre auf höchstem Niveau zu machen, aber dann auch etwas zu bewegen. Und Stanford ist Teil des einzigartigen Ökosystems ‚Silicon Valley‘. Es besteht aus Universitäten und Forschungsinstitutionen, Start-Ups, Industrie- und Tech-Giganten, Kapitalgebern und anderen unterstützenden Institutionen, in dem sich Menschen begegnen und gegenseitig befruchten.

Was dann konkret die Umsetzung von Ideen oder Forschungsergebnissen in Produkte angeht, hat die Stanford University – wie vermutlich alle anderen Top-Hochschulen in den USA auch – Programme, die einem hierbei unternehmerisch helfen wollen. Da gibt es zum Beispiel einen Akzelerator mit dem vielversprechenden Namen „Spark“, der innovative medizinische Ideen von Gründern mit Geld und viel Knowhow begleitet, damit schnell die Brücke in die Praxis geschlagen werden kann. Oder auch ein Programm, das sich „Ignite“ nennt und an dem ich selber teilgenommen habe. Es richtet sich an Personen ohne betriebswirtschaftlichen Hintergrund, eben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie mich, und lehrt das Einmaleins des Unternehmertums theoretisch und ganz „hands on“. Über drei Monate hinweg werden in Kleingruppen basierend auf Forschungserkenntnissen oder anderen Ideen konkrete Geschäftsideen entwickelt. Begleitet wird das von verschiedenen Unterrichtsmodulen zu „Ideation“, über „Value Proposition“, „Accounting“ bis hin zum finalen „Pitch“ vor den Kapitalgebern. Ich war beispielsweise in einer Kleingruppe um einen Ingenieur aus Stanford, der im Rahmen seines Postdocs eine verschluckbare Kapsel entwickelt hat, die auf dem Weg durch den Magen-Darm-Trakt Biomarker sammelt und dadurch bestimmte Krebsarten frühzeitig entdecken soll – ganz ohne lästige Magen-Darm-Spiegelungen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das in Zukunft im Regal sehen werden, aber auch das ist natürlich eine wichtige Einsicht: Nicht jede gute Idee ergibt ein gutes Produkt. Dennoch schaut der ökonomische Verwertungsapparat genau hin, was da im „Ignite Program“ läuft. Das sind also keine Glasperlenspiele.

Surf Spot „Jack’s“ in Santa Cruz

Surf Spot „Jack’s“ in Santa Cruz

© Privat

DFG: Ihr Forschungsgruppenleiter scheint da ebenfalls ein wichtiger Impulsgeber zu sein, oder?

NJ: Ja klar, Sidd Jaiswal hat auf der einen Seite ein schon fast beängstigendes wissenschaftliches Niveau, auf der anderen Seite ist er sehr großzügig, nahbar und sprudelt nur so vor Ideen. Ich treffe ihn wenigstens einmal pro Woche und wenn ich ihm von meinen Fortschritten oder auch Fehlschlägen berichte, hat er immer gleich ein „sprich doch mal mit dem oder probiere doch mal das“ für mich. Diese Offenheit erstreckt sich auch auf das Mentoring, seine Ratschläge für meine Karriere. Da gibt es nicht von vornherein den einen Königsweg, der alle anderen ausschließt. Das deutsche „ja, aber“ scheint hierzulande weitgehend unbekannt zu sein. Es heißt hier allenfalls „yes, and“. Dieser erfrischenden Offenheit begegnet man als Deutscher schon mal etwas skeptischer und wir finden es nachgerade lächerlich, dass wirklich alle Kinder im Vorschulalter, jedenfalls die in den zwischen 30.000 und 50.000 $ pro Jahr teuren Kitas, als „future leaders“ angesehen werden und sich – siehe Elizabeth Holmes – „fake it until you make it“ als brauchbarer Lebensentwurf erscheint. Aber dieser in deutschen Augen blauäugige Optimismus, dass es prinzipiell keine Verlierer gäbe, nur Gewinner und Lernende, hat schon seinen eigenen Reiz und ist sehr ermutigend. Klar, wenn jemand aus Rückschlägen absolut gar nichts lernt verfängt irgendwann das ‚Loser‘-Image, doch bezweifelt man in den optimistischen Gegenden der USA entgegen aller Evidenz, dass es so etwas überhaupt gibt.

DFG: Sie scheinen hin- und hergerissen. Wo sehen Sie sich persönlich in fünf Jahren?

NJ: Diese Frage ist für mich zurzeit gleichermaßen drängend wie auch schwierig zu beantworten. Mein derzeitiges Leben hier in Kalifornien könnte nicht besser sein: Die Forschung ist hochinteressant und ertragreich. Das Land und die Natur sind wunderschön und das persönliche Umfeld ist bereichernd. Meine Frau und ich genießen das sehr. Ich würde am liebsten alles auf Status Quo einfrieren. Aber klar, selbst das Paradies würde mit der Zeit langweilig. Ich schaue mir mit CHIP Vorgänge des Alterns an und in Düsseldorf lebt immer noch meine mittlerweile 102-jährige Großmutter. Mit der telefoniere ich regelmäßig und bekomme jedes Mal einen Überblick darüber, was so in der Rheinischen Post steht. Sie ist noch sehr fit und fehlt mir hier ein wenig in Kalifornien, wie auch meine Eltern, meine Geschwister und Freunde. Und was meine weitere Planung angeht? Fest steht, meine Leidenschaft gilt den Lebenswissenschaften. Und da gibt es eine große Bandbreite an Optionen: Einerseits den für mich natürlich sehr offensichtlichen Weg als Onkologe in der akademischen Forschung mit den anzustrebenden Schritten Forschungsgruppenleitung und Professur. Aber auch einige andere Möglichkeiten, angefangen bei einem eigenen Spin-Off, wozu man hier in Stanford von rechts und links ermuntert wird, über eine Beratungstätigkeit in den Lebenswissenschaften bis hin zu VC-Firmen. Schauen wir mal – am Ende sind es ja auch Zufälle oder Gelegenheiten, privat oder beruflich, die über den weiteren Weg entscheiden.

DFG: Und sonst so?

NJ: Wenn ich um fünf Uhr morgens aufstehe, dann schaffe ich es locker in einer Stunde nach Santa Cruz an den Strand. Dann geht es auf dem Surfboard liegend und mit den Händen paddelnd raus aufs Meer an die Stellen, wo man Wellen erwischen kann, und dann heißt es: rumdrehen und warten. Links und rechts schwimmen schon mal Delfine und der Blick zurück ans Ufer bekommt eine seltsame, fast schon existenzielle Anmutung, vor allem im Morgenlicht. Das Warten hat etwas Meditatives und wenn es durch eine passende Welle unterbrochen wird, geht plötzlich alles ganz fix. Ich bin zwar nicht – wie sehr viele Menschen hier an den Küsten Kaliforniens – auf dem Board geboren und aufgewachsen und bin daher wahrscheinlich nicht das Paradebeispiel für Eleganz, aber zum Stand komme ich mittlerweile schon gut und so ein bis zwei Schwünge sind mir auf dem Brett auch schon gelungen. Mit ein wenig Neid blicke ich auf die Wellenbrett-Urgesteine, mit ihrer sonnengegerbten Haut, die links und rechts von mir mit gelegentlich dickem Bauch aber immer viel Technik und Finesse auf ihre Boards kommen und Richtung Strand gleiten. Bei meinem derzeitigen Niveau geht es noch in den allermeisten Fällen wieder ganz fix zurück ins Wasser. Das trainiert die Bauchmuskeln und die eigene Gelassenheit. Die Stunde auf dem Wasser lohnt sich aber auch ohne Wellenritt, ich bin dann sehr erfrischt spätestens zwischen 9 Uhr und 10 Uhr im Labor und der hier vorherrschende Optimismus lässt mich dann doch an meine Fortschritte auf dem Surfbrett glauben.

DFG: Haben Sie keine Angst vor Haien?

NJ: Sie schauen zu viel Shark Week. Ich bin mir fast sicher, dass die Autofahrt zum Strand statistisch gefährlicher ist als das Surfen. Ich kann es eigentlich nur jedem raten, sich mal auf dem Surfbrett zu versuchen. Es trainiert wie gesagt nicht nur die Bauchmuskeln, sondern ist auch eine wunderbare Übung in Gelassenheit.

DFG: Dann hoffen wir, dass sich diese Gelassenheit in kraftvollen Fortschritten Ihres Forschungsvorhabens niederschlägt, Sie mit Ihren Forschungsergebnissen und Ihren Erfahrungen an Stanford University auch über den reinen Erkenntnisgewinn wirklich etwas bewegen können und Sie dem Forschungs- und Innovationsstandort Deutschland in der ein oder anderen Art erhalten bleiben. Herzlichen Dank für dieses Gespräch und für Ihre Zukunft alles Gute.