„In Amerika gewesen“: Deutsche Forschende in den USA und Kanada im Gespräch

Lucian Ionel

Lucian Ionel

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(02.11.21) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert mit dem Forschungsstipendium und seit 2019 mit dem Walter Benjamin-Stipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zu einem kleineren Teil auch in Kanada wahrgenommen, Ausdruck einer in vielen Disziplinen herrschenden Überzeugung, dass hilfreich für die Karriere sei, „in Amerika gewesen“ zu sein. In einer Reihe von Gesprächen möchten wir Ihnen einen Eindruck von der Bandbreite der DFG-Geförderten vermitteln. In dieser Ausgabe schauen wir, wer sich hinter der Fördernummer IO 99 verbirgt.

DFG: Lieber Herr Ionel, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns nehmen. Sie sind im rumänischen Iasi geboren, das den meisten Lesern unbekannt sein dürfte. Könnten Sie uns da ein wenig erzählen.

Lucian Ionel (LI): Herzlichen Dank für die Gelegenheit zu einem Gespräch und ein Dank auch noch einmal an die DFG für das Forschungsstipendium, mit dem ich die letzten beiden Jahre in Pittsburgh verbracht habe. Ich bin in der Tat in Iasi geboren und unter den grauen Plattenbauten eines unter Ceausescu errichteten Stadtteils aufgewachsen. Iasi, historisch die Hauptstadt von Moldau, war für die Entstehung Rumäniens bedeutsam: erste Universität, erstes Nationaltheater, erster Literaturkreis usw. Eine Stadt, deren Bevölkerung am Anfang des 20. Jahrhunderts zur Hälfte jüdisch war und wo im Juni 1941 ein grauenvoller Pogrom stattgefunden hat. Ein Teil meiner Kindheit hat sich auch auf dem Land nahe bei Bukowina abgespielt. Mit der Gegend verbinden Sie vielleicht den Namen von Paul Celan. Da gab es noch in den 1990ern Dörfer, die von der Moderne fast unangetastet waren – einschließlich vieler Pferde.

DFG: Noch ein Wort zu Iasi. Sie haben dort Ihr Abitur am Richard-Wurmbrand-Kollegium gemacht, benannt nach einem 2001 verstorbenen lutherischen Pfarrer, der für seine Hilfsaktionen für von Totalitarismus verfolgte Christen bekannt geworden ist und in der Zeit des Nationalsozialismus auch Juden unterstützt hat. Wurde Ihre Entscheidung für die Philosophie bereits dort geprägt oder hätte es zu diesem Zeitpunkt auch andere Wege für Sie geben können?

LI: Als Jugendlicher wusste ich bereits, dass es Philosophie werden soll. Ich hatte Lehrer und Lehrerinnen im Gymnasium, die mich auf philosophische Texte aufmerksam gemacht haben. Nachdem ich damit angefangen hatte, sind meine anderen Interessen, wie die an Mathematik, Physik und Musik in den Hintergrund getreten. Die Zeit, die ich den anderen Leidenschaften widmen konnte, ist dann allmählich gleichsam verdunstet. So blieb allein schon wegen der vielen Umzüge, ob nun intra- oder interkontinental, irgendwann sogar die Gitarre zurück.

DFG: Sie sind mit dem Erasmus-Programm zum Studium nach Freiburg gekommen. Könnte man Sie als ein Kind der Erasmus-Generation bezeichnen, also ein Pan-Europäer, oder hatte es konkrete fachliche Gründe, die Sie nach Freiburg führten?

LI: Freiburg war ja gewissermaßen die Hauptstadt der Phänomenologie und Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Mit diesem Interesse bin ich 2008 nach Deutschland gekommen – damals war ich 19. Es ist eine wichtige Frage, ob wir, meine Generation, durch unser Selbstverständnis als Europäer ein neues Verständnis für das hervorbringen, was Gemeinschaft ist. Eine Gemeinschaft konstituiert sich meines Erachtens durch Teilen. Wir teilen gerade die deutsche Sprache, wir gehören also der Gemeinschaft derjenigen an, die Deutsch sprechen. Ebenso können wir mit Anderen die italienische oder genauer gesagt die sizilianische oder die toskanische Küche teilen. Es gibt vielleicht die italienische Sprache und den italienischen Fußball, aber keine Entität, die all das unter sich zusammenbringt und als italienisch bestimmt. Das Wort „italienisch“ hat in diesen Fällen jeweils eine andere Bedeutung.

Der Begriff der Nation hat nicht nur regionale Unterschiede verflacht, sondern auch eine irreführende Vorstellung einer übergreifenden und vorbestimmenden Identität veranlasst. Unsere gemeinschaftliche Identität ist ein vielschichtiges, pluralistisches und dynamisches Teilen. Ich hoffe, dass die europäische Identität ein solches Verständnis von Gemeinschaft belebt. Auf diese Art wäre der europäische Prozess eine Dekonstruktion des Nationalismus, der vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts katastrophale Folgen für Europa hatte. Das heißt aber nicht, dass es keinen italienischen Fußball und keine italienischen Gebräuche mehr geben soll. Im Gegenteil, man sollte sie als das ansehen, was sie sind: Praktiken und Gewohnheiten, Erfahrungen und geschichtliche Hintergründe, die bestimmte Menschen teilen.

DFG: Mit dem Forschungsstipendium der DFG waren Sie in Pittsburgh. Warum gerade dort?

LI: Die Pittsburgher Philosophie ist ein tolles Beispiel, wie die klassische Philosophie für gegenwärtige Fragen und Debatten wegweisend sein kann. In Pittsburgh habe ich mit John McDowell gearbeitet. Sein Werk ist der Frage gewidmet, wie sich unser Denken von der modernen Angst um den Platz des Geistes in der Natur befreien kann. Es handelt sich um den Gedanken, dass unser Vermögen, zu denken, für unsere Lebensform natürlich ist, aber deswegen nicht weniger autonom. Mein Projekt ging von der Frage aus: Was heißt es für den Menschen, sich eine Fähigkeit anzueignen, das Denkvermögen zu aktualisieren? Welche Rolle spielt das Tätigsein in der Aneignung einer vernünftigen Fähigkeit? Was ist die Bedeutung der Natur, wenn wir von der menschlichen Lebensform sprechen? Pittsburgh war die natürliche Adresse für diese Art von Fragen, auch wegen des dortigen Stellenwerts der klassischen Autoren, auf die ich zurückgreifen wollte: Aristoteles, Kant, Hegel. Auf diese Weise hat mein Projekt auch Anschlüsse an die Arbeiten von Robert Brandom und Michael Thompson gefunden und konnte von der sachfokussierten und hierarchiefreien Atmosphäre in Pittsburgh profitieren.

DFG: Sie sind nach Ihrem Aufenthalt in Pittsburgh nicht wieder nach Freiburg zurückgegangen, sondern nach Berlin. Was machen Sie dort und wie sehen Ihre beruflichen Pläne aus?

Architektin und Philosoph vor Gebäuden

Architektin und Philosoph vor Gebäuden

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LI: In Berlin arbeite ich auf Einladung von Barbara Vetter am Institut für „Human Abilities“. Das von ihr gemeinsam mit Dominik Perler geleitete Institut wurde letztes Jahr gegründet und ist ein ideales Umfeld, um mich mit jüngeren und internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Denktraditionen zum Thema „Fähigkeit“ auszutauschen. Die DFG finanziert meine Rückkehr mit einem Stipendium, das auf meine Reintegration in das deutsche akademische System abzielt. So werde ich in den folgenden Monaten an einem Förderantrag für ein langfristiges Projekt arbeiten, aber mich auch weiter um meine Texte kümmern. Mein beruflicher Plan ist, das zu tun, was ich sehr gerne tue: Unterrichten, Lesen, Schreiben, Denken. Wie und wo, das ist noch offen, aber am liebsten an einem Ort mit meiner Frau. Sie ist Architektin, baut also nicht bloß Gedankengebäude. Sie arbeitet mit dem Raum, ich mit der Zeit.

DFG: Wo und wie kann Philosophie außerhalb der akademischen Welt relevant sein? Können Sie sich persönlich eine berufliche Tätigkeit außerhalb der Universität vorstellen und wenn ja, wo?

LI: Nun ja, der Gegenstand der Philosophie ist nicht die akademische Welt. Der Mensch ist ein Lebewesen, das im Lichte eines Verständnisses von sich selbst lebt. Die Philosophie hat die Aufgabe, dieses Selbstverständnis zu artikulieren. Einerseits die Kategorien, in denen der Mensch sich und seine Welt versteht, so zum Beispiel die Kategorie der Fähigkeit. Andererseits artikuliert die Philosophie die Auffassung, die Menschen geschichtlich von sich und der Welt entwickeln, etwa die Auffassung, dass wir Wesen der Schöpfung sind oder „nur“ einfache Naturwesen. Der Gegenstand der Philosophie ist also das Selbstbegreifen des Menschen. Das ist meines Erachtens keine akademische Angelegenheit, selbst wenn sie im Elfenbeinturm betrieben wird. Der Elfenbeinturm ist nur ein Laboratorium. Ob die Philosophie nun auch außerhalb der Universität sinnvoll betrieben werden kann, ist eine Frage, die von ganz konkreten, empirischen Bedingungen abhängig ist. Klar ist, dass Philosophieren nicht nur materieller, sondern auch sozialer Bedingungen bedarf, also Anstöße und Austausch.

DFG: In Ihrem Beitrag zur DFG-Kampagne „Für das Wissen entscheiden“ heißt es unter anderem: „Menschliches Wissen weiß sich selbst – derart, dass es die eigenen Annahmen und Regeln zum Ausdruck bringen kann.“ Müsste es für eine intersubjektive Verständigung und im Sinne intellektueller Redlichkeit nicht heißen „..., dass es die eigenen Annahmen und Regeln stets zum Ausdruck bringen muss“?

LI: Ich bin einverstanden. Ich bin der Ansicht, dass die Artikulation der Annahmen und Implikationen unserer Wissensansprüche unsere semantische Welt bereichert. Auszudrücken, was wir meinen, macht unser Leben reicher. Dieser Gedanke war Thema meiner Dissertation. Aber der Imperativ, wir müssen die Voraussetzungen unseres Wissens zum Ausdruck bringen, beruht auf einem Können, das in jedem Wissensanspruch implizit ist. Damit meine ich, dass auch diejenigen, die sich der Artikulation verweigern, die sich etwa auf partikuläre und unaussprechliche Erfahrungsgehalte berufen, stillschweigend wissen, was sie tun. Beispielsweise sind wir uns der Regeln der Logik implizit bewusst, besser: potenziell bewusst, selbst wenn wir uns weigern, diesen zu folgen. Mit anderen Worten: wir haben die Möglichkeit, den Horizont unseres Wissens zu thematisieren und damit tiefliegende Annahmen zu hinterfragen, weil unser Wissen, alltäglich und wissenschaftlich, implizit selbstbewusst ist.

DFG: Die Philosophie verspricht (unter anderem) Antworten auf die drei Fragen: Was kann ich wissen, was soll ich tun und auf was darf ich hoffen? Müsste man die erste dieser Fragen nicht weiter auffächern in Richtung „wie kann ich etwas wissen?“ In meinen Augen ist es bemerkenswert, dass Menschen sich bislang einander häufiger über Fragen bekriegt haben, deren Antworten sie zu wissen glauben, als etwa über den Satz des Pythagoras. Ist demnach nicht die Lokalität des jeweiligen Wissens und damit auch die Eignung zu Evidenz ein wichtiger Aspekt von Erkenntnis?

LI: Menschen bekriegen sich ja nicht über das, was sie wissen können, sondern über das, was sie glauben oder beanspruchen möchten. Die Macht und nicht das Können ist der Gegenstand des Kampfs. Angelegenheiten des Glaubens hängen oft mit der Zuschreibung von Autorität zusammen. Im Gegenteil ist ein Wissensanspruch nur dann ein solcher, wenn er begründbar ist. Die Regeln der Begründung sind aber meines Erachtens nicht bloß intersubjektiv verhandelt, wie zu schnell behauptet wird, sondern sie entspringen vielmehr aus unserer Wissensfähigkeit — aus dem, was es objektiv heißt, etwas wissen zu können. Wenn man beispielsweise das Tischlerhandwerk lernt, dann eignet man sich erst intersubjektiv die Regeln der Kunst an. Wenn man sich aber diese Fähigkeit angeeignet hat, dann erkennt man den Sinn der Regeln im Tischlern selbst. Man lernt erkennen, was objektiv zu dieser Kunst gehört, wie sie dann kreativ ausgeübt werden kann. Der Vergleich mag zu kurz greifen, da unsere Wissensfähigkeit keine Fertigkeit unter anderen ist. Mit dem Vergleich will ich aber sagen, dass die Lokalität und Subjektivität unseres Wissens nicht gegen die Allgemeinheit und Objektivität unserer Wissensfähigkeit sprechen. Es ist eine schwere Denkaufgabe, diese scheinbare Paradoxie aufrechtzuerhalten: Unsere Erkenntnisfähigkeit wird sozial-geschichtlich aktualisiert, sie ist aber nichtsdestotrotz objektiv.

DFG: Sie haben in Pittsburgh zum Begriff der Freiheit gearbeitet, einer wesentlichen Voraussetzung dafür, dass wir uns als Menschen über die Frage unterhalten können, was zu tun sei und was nicht. Bei Büchner heißt es noch zynisch: „Moral ist, wenn man moralisch ist.“ Haben wir mittlerweile mehr in der Hand als diese Tautologie?

LI: Freiheit wird in mehrfacher Bedeutung verstanden. Es sollte dabei nicht unterschätzt werden, wie die Geschichte des politischen Begriffs von Freiheit mit der Geschichte des metaphysischen Freiheitsbegriffs zusammenhängt. In der Antike bedeutet politische Freiheit im Grunde Arbeitslosigkeit. Es ist dann kein Zufall, dass die antike Literatur Freiheit als Betrachtung beschreibt – griechisch theoria, lateinisch contemplatio. Wenn in der Moderne die politische Freiheit in der Befreiung von Autorität errungen wird, dann spricht die Philosophie von Autonomie als Selbstgesetzgebung. In der Aufklärung war dies aber nicht so gemeint, dass man tut, was man will, da die Handlungsmotive dabei immer noch von einer fremden Autorität herkommen können. Stattdessen war es in dem Sinne gemeint, dass man im Lichte des besseren Grundes handelt. Gegen die Autorität der Tradition und der Hierarchie wird also in der Aufklärung nicht die individuelle Autorität, sondern die Autorität der Vernunft ausgespielt, also die des besseren Grundes.

Die postmoderne Auffassung, dass der Einzelne die letzte Instanz der Wahrheit ist, dass Freiheit also Eigenheit bedeutet, hat beträchtliche Folgen, vor allem in der digitalen Öffentlichkeit. Wir bedürfen der Rehabilitierung des aufklärerischen Freiheitsbegriffs: Frei sind wir dann, wenn wir die Handlungs- und Urteilsgründe erkennen und artikulieren, aber auch wenn wir diese Gründe nicht als Gegebenheiten, sondern als Möglichkeiten sehen, worüber wir uns vernünftig unterhalten können.

DFG: Geschichtsphilosophien wie die von Hegel oder Marx setzen voraus, dass Geschichte ein Telos hat, also ein Ziel, womöglich sogar einen Sinn. Lässt sich eine solche Voraussetzung anders als axiomatisch oder dogmatisch begründen und wenn nicht, was bliebe dann als Gegenstand von Geschichtsphilosophie?

LI: Geschichte muss nicht teleologisch verfasst sein, um Geschichte zu sein. Die Debatten, in die wir eintreten, die Begriffe, die unsere Welt gestalten, haben eine Geschichte. Unsere menschliche Welt ist eine gewordene – wie auch unsere Auffassung von Natur und Geist. Davon das Gegenteil zu behaupten, ist meistens Symptom von Ideologie. Ideologie ist, mit Hegel und Marx gesprochen, falsches Bewusstsein: zu glauben, dass das, was eigentlich geworden ist, gegeben ist. Gewiss gibt es Kategorien, in denen der Mensch sich versteht, und Fragen, die der Mensch sich stellt, die einen zeitlosen Kern haben. Aber die Form, in der jene Kategorien und Fragen formuliert werden, ist die Ausprägung einer Geschichte. Wenn man dies nicht weiß, dann ist es so, als ob man auf einem Weg fährt, ohne die Route zu kennen – ohne zu wissen, wo sie begonnen hat. Die Philosophie kann also nachzeichnen, wie Begriffe oder gesellschaftliche Zusammenhänge geschichtlich geworden sind, ohne dahinter eine mysteriöse Handlungsmacht oder eine projizierte Notwendigkeit zu suchen.

DFG: Die Mathematik bedient sich einer Sprache von größtmöglicher Strenge, doch selbst dort ist mittlerweile der Punkt erreicht, an dem Widersprüche unvermeidlich sind. Für philosophische Laien wie mich lesen sich dagegen Texte von Hegel oder Heidegger wie das Eingeständnis, dass die Philosophie diese Grenzen schon sehr viel früher erreicht hat. Ich nehme sie schon gar nicht mehr als Versuch wahr, intersubjektive Klarheit zu vermitteln, sondern ich nehme sie ästhetisch wahr. Bei Adorno wird einem die ästhetische Wahrnehmung selten übelgenommen, aber Sie unterrichten auch Heidegger und Hegel. Wie geht das?

LI: Jede Begrifflichkeit hat die Tendenz, zum Jargon zu werden. Unser Begriffsvermögen ermöglicht uns, Realitäten zu erschließen, die wir anders, mit bloßem Auge, nicht sehen würden. Zum Beispiel erschließt uns der Begriff der Nachhaltigkeit eine Realität, die da ist, ob wir sie greifen oder nicht. Ein Begriff bringt sie ans Licht. Die Arbeit der Begriffe ist es, Realitäten auszulegen, Sachverhalte herauszuheben, Bedeutungen zu kartographieren. Mit der Zeit werden die Begriffe aber selbständig und selbstreferentiell, weil im Diskurs nur noch auf sie verwiesen wird, so als ob sie abgesonderte Entitäten wären. Man bleibt am Ausdruck, am Aussehen, an der Form hängen. Daher – so vermute ich – kommt Ihre ästhetische Erfahrung dieser Schriften. Das ist die Gefahr eines Gedankengebäudes: Denken wird zur Schule, die Philosophie zur Scholastik. Um diese Gefahr zu vermeiden, muss die Philosophie die Verantwortung übernehmen, im Klartext zu reden. Wir müssen uns immer wieder erinnern, was Begriffe eigentlich sind – Möglichkeiten, die menschliche Realität auszulegen, Arten, darüber zu reden.

DFG: Die Mathematik kann von sich behaupten, kumulativ zu arbeiten, also Gedanken, Beweise und Techniken aus der Tradition mit in die zeitgenössische Arbeit einbauen zu können, ja zu müssen. In der Philosophie wird immer noch der teleologische Gottesbeweis eines Thomas von Aquin behandelt, der logisch offensichtlich unsinnig ist.

LI: Hier gilt es zu differenzieren, was Philosophie ist, was Philosophiegeschichte und was Philologie. Es gibt großartige begriffliche und argumentative Ressourcen in der philosophischen Klassik, welche gegenwärtige Fragen und Debatten erhellen können. Thomas von Aquin kann aus dieser Hinsicht auch systematisch relevant sein, nicht nur philologisch oder geschichtsphilosophisch, da sein Werk ja für eine ganze Epoche maßgebend war. Laut Wilfrid Sellars, der Urvater der Pittsburgher Schule, ist Philosophie ohne Philosophiegeschichte, „wenn nicht leer oder blind, dann mindestens dumm“. Gute Philosophie baut also Gedankengut aus der Tradition in ihre Arbeit ein; zumal die Art, in der eine Frage gestellt wird, eine Geschichte hat. Was Sellars aber fordert, ist kein rein philosophiegeschichtlicher Zugang zur Klassik. Wenn man also etwa mit Descartes philosophiert, dann kann man nicht so tun, als ob es keinen Darwin gegeben hätte. Davon kann man aber abstrahieren, wenn man den kartesischen Text philologisch oder ideengeschichtlich betrachtet. Wir tun aber gut, diese jeweils für sich genommen ehrenhaften Tätigkeiten voneinander zu unterscheiden.

DFG: Die Mathematik macht Aussagen über die Struktur der Welt, bedient sich dabei kohärenter Formalismen und geht ohne Weiteres mit Konzepten wie Punkt, Null oder Unendlich um, die das Denken von Nicht-Mathematikern rasch aus der Kurve tragen. Welche Leitplanken kann die Philosophie anbieten, um sich vernünftig über die Frage zu unterhalten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz zum Tanzen finden?

LI: Das ist eine schwierige Frage. Denn die unmittelbare Antwort wäre, dass die Leitplanke der Vernunft die logische Form des Denkens ist. Das ist aber nur ein formaler Maßstab, der sich gar nicht nach dem Inhalt dessen richtet, was zu denken ist. Philosophie kann formalistisch sein und sich über die Frage streiten, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können. Darin ist aber kein Weltbezug enthalten. Vernunft ist aber weltbezogen. Lassen Sie mich kurz diesem Gedankengang folgen: Die Wissenschaft beschreibt oder erklärt. Die Philosophie soll artikulieren, was Beschreiben und Erklären sind. Dies umfasst aber nicht nur den formalen Aspekt des Wissens, wie es etwa die Mathematik oder die reine Logik tun, sondern auch das, was wir im Beschreiben und Erklären implizit als weltbezogen wissen.

DFG: Ästhetik will als philosophische Disziplin Aussagen über „das Schöne“ machen, die sich den Kriterien von „wahr“ und „falsch“ unterwerfen lassen. Streng genommen darf ein Philosoph also nicht irgendetwas nur „schön finden“, etwa die Musik der zweiten Wiener Schule, sondern muss sie „schön wissen“. Erlauben Sie sich dennoch, etwas nur „schön zu finden“?

LI: Die Unterscheidung geht auf Kant zurück. Was ich individuell als schön empfinde, etwa eine Farbe, einen Ton oder eine Temperatur, ist eigentlich angenehm. Schön ist das, was wir Menschen allgemein als harmonisch und ordnungsvoll erfahren, ohne sagen zu können, worin die Ordnung besteht, welches Prinzip die Harmonie regelt. Die Erfahrung des Schönen ist laut Kant unabhängig von unserem sozialen und geschichtlichen Hintergrund. Sie nimmt bloß unsere menschlichen Vorstellungskräfte als solche in Anspruch, ohne aber dabei eine deutliche Interpretation zu verlangen oder hervorzurufen. Die spannende Frage dabei ist für mich, ob eine ästhetische Erfahrung eine sinnhafte Erfahrung ist – ob also Sinn ohne Begriff möglich ist. Eine ästhetische Erfahrung kann keine bloße Empfindung des Angenehmen sein, sie muss sinnhaft sein. Es war die Frage meiner Dissertation, ob es Sinnerfahrungen ohne den Beitrag unseres Begriffsvermögens gibt. Ich war dort der Ansicht, dass unser Begriffsvermögen die Erfahrung von Bedeutsamkeit ermöglicht, selbst wenn wir darüber schweigen müssen, was wir erfahren. Ich glaube immer noch, dass die Erfahrung des Schönen von unserem Begriffsvermögen ermöglicht wird, selbst wenn wir keine Begriffe finden, um die Erfahrung ausreichend zu beschreiben.

DFG: Woran arbeiten Sie zurzeit?

LI: Die Frage, die mich zurzeit bewegt, habe ich bereits als folgendes Paradox angeführt: Wie kann Vernunft geworden sein und trotzdem objektiv? Im Denken beanspruchen wir, die Welt objektiv zu erkennen. Wir müssen aber – mehr oder weniger insgeheim – fürchten, dass unser Denkvermögen naturhistorisch geworden ist. Es gibt heutzutage zwei Paradigmen, die die Legitimität der Vernunft herausfordern: der evolutionäre Naturalismus und der historische Konstruktivismus. Die Paradigmen entspringen aus wissenschaftlichen Errungenschaften: einerseits die darwinsche Evolutionstheorie, die unsere Spezies als nicht festgelegt erwiesen hat, andererseits der posthegelsche oder postnietzscheanische Genealogie-Gedanke, der unsere geistigen Lebensformen als geschichtlich geworden erklärt hat. Diese Errungenschaften haben die Auffassung herbeigeführt, dass unsere Fähigkeiten auf ihre Entstehungsgeschichte zurückführbar sind, dass ihr Funktionsprinzip abgeleitet ist, dass die Regeln unserer Vermögen sozial konstruiert sind.

Es gibt zwar theoretische Versuche, auf diese Herausforderungen zu reagieren, also die Legitimität der Vernunft zu retten. Ich möchte aber an den Sinn der Genesis selbst herangehen. Die Philosophie hat diese Frage als Psychologismus abgetan – so Frege oder Husserl. Was heißt es aber für die Vernunft, geworden zu sein? Welche Art von Ontologie brauchen wir, um uns damit zu versöhnen? Das Problem ist alt: Wie können die Formen, die das Reich der Veränderung verständlich machen, selbst diesem Reich angehören, fragt Platon? Die Frage ist aber nichtsdestotrotz dringlich und liegt vielen wissenschaftlichen und philosophischen Anstrengungen zugrunde.

DFG: Sind für solche Versuche die USA eine fruchtbarere Landschaft als Deutschland bzw. Europa?

LI: Dies hängt wahrscheinlich mit einer dort zunächst unschuldigen Ignoranz gegenüber Geschichte zusammen. Diese Ignoranz führt zu einem deutlichen Mehr an Kreativität. In Europa kann das Bewusstsein der vergangenen Errungenschaften und die Verantwortung gegenüber der Geschichte zur Last werden. Wenn bedeutende Werke bereits geschaffen wurden, dann bleibt uns nur, sie zu verwalten. Ein gewisser Grad an Ignoranz wird somit Bedingung von Handeln und Schaffen. Andererseits ist die Ignoranz als solche ein wesentliches Hindernis, zumal sich besonnenes Handeln und sachkundiges Schaffen auf den Schultern anderer stützt.

DFG: Wir wissen oft sehr viel über die Mängel der Welt und fühlen uns gleichzeitig ohnmächtig. Zwei gängige Techniken, diese Kluft in den Hintergrund zu drängen, sind der Superhero und der Zyniker, der rät: Kopf in den Sand und Augen auf! Wozu würde ein Philosoph des Handelns raten?

LI: Es gibt einen Unterschied zwischen dem, wozu Philosophinnen und Philosophen raten, und dem, was sie tun. Sie sind zaghaft, weil sie sorgfältig sind. Wer mit Einzelheiten sorgfältig umgeht, wird sich zurückhaltend benehmen. Aufgrund dieser Zaghaftigkeit dürfen wir uns dennoch nicht verstecken, etwa in einer Fachsprache. Transparenz ist meines Erachtens Bedingung von bedeutsamem Handeln und gesundem Leben. Die Transparenz soll aber nicht auf Kosten der Nuance, der Differenzierung, der begrifflichen Strenge gepflegt werden. Dieser Sachen bedürfen wir sehr im öffentlichen Raum – obwohl wir es uns manchmal, wie in diesem Interview, einfach machen müssen, um überhaupt etwas sagen zu können. Um aber die Mängel der Welt zu beheben, bedürfen wir sorgfältiger Denkarbeit. Wenn es darauf ankommt, wie wir unser gemeinsames Leben gestalten können, dann ist Denken Handeln.

DFG: In der griechischen Tradition gibt es den inszenierten Dialog als Gattung philosophischer Literatur, also Erkenntnisgewinn aus dem Wechselspiel von These und Gegenthese. Warum ist das aus der Mode gekommen und mit welcher Figur aus der Philosophiegeschichte würden Sie gerne einen fiktiven Dialog führen und aufzeichnen?

LI: Da gäbe es viele Möglichkeiten, aber vor allem die antiken Philosophen oder Philosophinnen sind biografisch nicht genügend erfasst, als dass man dort eine leichte Auswahl treffen könnte. Ich würde daher zu Kant tendieren. Zum einen verbirgt seine gedankliche Strenge weitgehend seinen ebenfalls bemerkenswerten Humor, zum anderen hat er regelmäßig und intensiv sozialisiert. Redselig und streng, ernsthaft und ironisch zugleich — ein idealer Gesprächspartner.

DFG: Auf der Webseite der Universität Freiburg sind Sie in einem Hörfunkstudio zu sehen. Haben Sie dort philosophisches „Talk Radio“ gemacht und wenn ja, mit Musik oder ohne?

LI: Hier trügt der Schein und ich wundere mich, dass es das Bild noch gibt. Es gab in Freiburg tatsächlich ein philosophisches „Talk Radio“, von Zlatko Valentíc geführt, doch war ich damals „nur“ Interviewpartner. Es ist ein Jahrzehnt her, und ich weiß nicht mehr, ob es links und rechts Musik gab.

DFG: Ja, das Internet ignoriert regelmäßig das Recht auf Vergessen. Sie sprechen wenigstens drei Sprachen auf muttersprachlichem Niveau. In welcher Sprache denken Sie?

LI: Je nachdem, wo ich mich befinde und wonach ich denke. Deutsch ist die Sprache, in der ich mich theoretisch am besten artikulieren kann. In den USA habe ich allerdings nur auf English gearbeitet. Meine alltägliche innere Rede findet in der Sprache statt, die in meiner jeweiligen Umgebung verwendet wird. Wenn ich etwa Zeit in Italien verbringe, dann kann ich auf Italienisch träumen, das mit dem Rumänischen ja eng verwandt ist.

DFG: Herzlichen Dank, lieber Lucian Ionel, für den unterhaltsamen Ausflug in die Philosophie im Allgemeinen und die Philosophie des Handelns im Besonderen. Wir wünschen Ihnen alles erdenklich Gute auf Ihrem Karriereweg und uns allen eine breitere Rezeption einer hoffentlich wieder relevant werdenden Aufklärung. Sapere aude!