„In Amerika gewesen“: Deutsche Forschende in den USA und Kanada im Gespräch

Dr. Clara Carus

Dr. Clara Carus

© Dr. Clara Carus

(26.11.20) Dr. Clara Carus hat von September 2018 bis September 2020 als Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an Harvard University ein Forschungsprojekt in der Philosophie zu den Rationalisten der Frühmoderne unter Einbindung von Émilie du Châtelet durchgeführt, war danach mit einem DFG-Rückkehrstipendium in Berlin, bevor sie jetzt zum Wintersemester als Habilitandin an das Center for the History of Women Philosophers and Scientists der Universität Paderborn wechselte. Frau Dr. Carus sprach mit dem DFG Nordamerika-Büro über Skepsis gegenüber den Sinnen bei den Rationalisten der frühen Neuzeit, über du Châtelet in Paderborn und über Wein und Zeit.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert mit dem Forschungsstipendium die Grundsteinlegung für wissenschaftliche Karrieren durch Finanzierung eines eigenen, unabhängigen Forschungsvorhabens im Ausland und seit 2019 auch in Deutschland. Ein großer Teil dieser Stipendien wird in den USA und zu einem kleineren Teil auch in Kanada wahrgenommen, Ausdruck einer vor allem in den Natur- und Lebenswissenschaften immer noch herrschenden Überzeugung, für die Karriere „in Amerika gewesen“ sein zu müssen.

Doch auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften führen Karrierewege über Amerika und wir möchten Ihnen heute einen Eindruck davon vermitteln, wer sich hinter der DFG-Fördernummer GO 3107 verbirgt.

DFG: Liebe Frau Dr. Carus, herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch nehmen. In Ihrem Lebenslauf steht: „Abitur am Kepler-Gymnasium in Freiburg, Note: 1,4.“ Sie sind jedoch nicht Astronomin oder Medizinerin geworden, sondern haben zwei Staatsexamina mit Auszeichnung in Philosophie, Politik und Deutsch abgelegt, um dann noch einen ebenfalls ausgezeichneten Magister in Philosophie und Politikwissenschaft aufzusatteln. Sie wollten aber nie Lehrerin werden, oder?

Clara Carus (CC): Nein, das schwebte mir in der Tat nicht vor. Das Lehramtsstudium hatte ich eigentlich nur deshalb gemacht, weil ich dort auch nach der Bologna-Reform noch drei Hauptfächer parallel studieren konnte. Mein Wunsch war es eigentlich immer, Philosophin zu werden. Während meines Aufenthalts als Graduate Student an der University of Oxford im Sommer 2015 wurde mir dann klar, dass sich Philosophie beruflich vielleicht am ehesten als Professorin realisieren ließe.

DFG: Im Projekttitel Ihres Aufenthalts an der Harvard University 2018 bis 2020 ist von der „Wurzel des epistemologischen Problems der Verknüpfung des rationalen Prinzips mit der Außenwelt in den Rationalisten der Frühmoderne“ die Rede. Sie haben zwei Kinder, eines fast vier Jahre alt und eines fast zwei. Wie würden Sie in fünf oder sechs Jahren Ihren Kindern erklären, worüber Sie in den USA in Harvard während Ihres Forschungsstipendiums gearbeitet haben?

CC: Es gibt bei den Rationalisten der frühen Neuzeit eine Skepsis gegenüber den Sinnen, die in der Grundannahme mündet, dass das Fundament des Wissens sich ohne den Bezug zur Außenwelt gründet. Erst in einem zweiten Schritt wird versucht, diese Auslassung wieder einzuholen. Ich verstehe diesen Bruch zwischen einem rationalen Prinzip und der Außenwelt als ein Problem und stelle dies in einem Buchprojekt dar, das ich in Harvard erarbeitet habe.

DFG: Sie behandeln Descartes, Leibniz und Du Châtelet und beleuchten vor allem die Rolle von Émilie Du Châtelet. Ist das Ihrer Ansicht nach auch eine geistesgeschichtlich noch weitgehend unterschätzte Frau?

CC: In Bezug auf mein Forschungsthema hat sie eine interessante Zwischenposition, weil sie klare rationale Prinzipien aufstellt, diese aber in der Grundlegung des Wissens nicht in einem Gegensatz zur Außenwelt versteht, d.h. sie die Sinne auch als Erkenntnisinhalt berücksichtigt. Sie ist also keine klassische „Rationalistin“, wie z.B. Descartes. Sie ist auf jeden Fall weit unterschätzt, vor allem viel zu wenig erforscht. Ihre Werke sind mindestens so interessant wie die von Leibniz oder Wolff, aber wenn man allein den Umfang der Forschungsliteratur vergleicht, dann ist es erschreckend, wie wenig sie berücksichtigt wurde. Du Châtelet hat trotz ihrer benachteiligten Rolle als Frau zu ihrer Zeit auch einen bedeutenden geschichtlichen Einfluss geübt und ihre Begriffsbestimmungen wurden zum Beispiel in die Encyclopedie von d’Alembert und Diderot aufgenommen, welche damals das zentrale Nachschlagewerk bildete. Dass ihr Hauptwerk bis dato nicht einmal vollständig auf Deutsch oder auf Englisch verlegt wird, ist schon skandalös und wirft ein schlechtes Licht darauf, wie die Werke von Frauen geschichtlich und wissenschaftlich aufgearbeitet wurden.

DFG: Vor dem Hintergrund einer biografischen Episode im Leben von Du Châtelet und der Rolle Voltaires darin wundert es einen, dass die „Story“ nicht schon längst von Hollywood aufgegriffen wurde. Es gibt da lediglich eine französische Fernsehproduktion („Divine Émilie“) von Arnaud Sélignac, einem Mann. Wollen Sie da als Frau kein Drehbuch aus der Perspektive von Du Châtelet schreiben, oder liegt das schon fertig in der Schublade?

CC: Vor allem müssen wir ihre Werke lesen und verstehen! Im Ernst: Nein, ich interessiere mich für Du Châtelet aus der Perspektive der Philosophie und hinsichtlich der Frage, ob sie zur Erkenntnistheorie der frühen Neuzeit etwas beigetragen hat. Das Drehbuch muss eine Biografie-interessierte Regisseurin oder Regisseur schreiben. Den Film schaue ich mir aber gerne an.

DFG: Sie arbeiten mit lateinischen Texten (Descartes), französischen (Leibniz, Du Châtelet) und deutschen (Kant). Inwieweit sind für Sie Sprachen Instrument von Erkenntnis, inwieweit im Vergleich etwa zur Mathematik recht ungenaue Kommunikationswerkzeuge?

CC: Die Sprache ist selbstverständlich das Mittel des wissenschaftlichen Ausdrucks in der Philosophie. Ich halte es für möglich, dass eine Person Gedanken denken kann, ohne diese in eine wissenschaftliche Sprache zu bringen oder bringen zu können. Ich interessiere mich jedoch auch für den wissenschaftlichen Ausdruck und glaube, dass die Sprache glücklicherweise auch kein Problem für mich darstellt. Dass die Quellen in unterschiedlichen Sprachen verfasst sind, ist in gewisser Hinsicht ärgerlich, aber ein Faktum. Dann ist es notwendig, diese Sprachen zu erlernen, um den Text richtig zu verstehen. Dabei halte ich mich abermals für glücklich, weil mir das Verstehen und Erlernen von Fremdsprachen leichtfällt.

DFG: Sie sind im Badischen groß geworden sind, am Kaiserstuhl in einem Weinbaugebiet. Lassen Sie uns daher auch ein wenig über Wein sprechen, liegt darin, wie Lateiner behaupten, wirklich die Wahrheit? Und wenn ja, welche Weine erfüllen den Wahrheitsanspruch besser als andere?

CC: Im Wein liegt die Wahrheit bestimmt nicht. Der Wein gibt aber die Möglichkeit von kausalen Bedingungen des Lebens abzusehen und damit auch von den Emotionen und Sorgen, die am Faktischen haften können. In diesem Sinne kann der Wein ein Erlass und eine Hilfe in unvollkommenen Zeiten sein. Manchmal gewinnt man einen klareren Blick auf bestimmte Dinge dadurch. Auch zu Feiern dient er der Gemütserhellung und einem lockeren Unernst in der Unterhaltung über das Leben. Ich persönlich schätze aus meiner Heimat vor allem die Weißweine, selbst, wenn das mittlerweile die Winzer im Badischen nicht mehr so gerne hören. Nach Roten halte ich lieber in Frankreich Ausschau, in Spanien und in Portugal, einem derzeit meiner Ansicht nach noch unterschätzten Herkunftsland.

DFG: Sie untersuchen unter anderem die Rolle der Sinnlichkeit im Zeitbegriff von Du Châtelet und kontrastieren das mit den Vorstellungen von Kant, der Zeit als rein a priori vorstellbar fassen will. Nun ist Königsberg nicht so für den Weinbau bekannt wie der Kaiserstuhl, daher lassen Sie uns spekulieren, ob Kant am Kaiserstuhl zu einem anderen Zeitbegriff gekommen wäre?

CC: Der Frage kann man sich wenigstens von zwei Seiten nähern. Ich habe mal einem Nachbarn einen Tag lang bei der Arbeit auf dem Weinberg geholfen. Das ist so üblich in Weinbaugebieten und es ist ziemlich anstrengend, gerade wegen der direkten Proportionalität von Zeiterfahrung und Frostbeulen. Die andere Annäherung wäre die geistige. Königsberg mag nicht für den Weinbau bekannt sein, aber Kant war ja insgesamt dem Wein gegenüber nicht abgeneigt. In seiner Anthropologie kann man nachlesen, dass er Wein positiv von Branntwein und Opium abhebt, die er für schädlich hält. Der Wein führt nach Kant zu fröhlichen, lauten und redseligen Gelagen mit Witz. „Der Trunk löst die Zunge (in vino disertus). Er öffnet aber auch das Herz und ist ein materiales Vehikel einer moralischen Eigenschaft, nämlich der Offenherzigkeit.“

DFG: Lassen Sie uns über Ihre unmittelbare Zukunft in Paderborn sprechen. Dort wird ja, wie in Königsberg, (noch) kein Wein angebaut. Ist die Stadt, so dicht am Teuteburger Wald und fern von Frankreich gelegen, mittlerweile nicht zu deutsch für Sie? Worauf freuen Sie sich besonders, wenn Sie an das Center for the History of Women Philosophers and Scientists in Paderborn denken, und wo hätte der Standort noch Luft nach oben?

CC: Ich war jetzt lange in den USA, mit all seinen Vor-, aber auch Nachteilen. Jetzt darf es in Deutschland auch mittendrin sein, vor allem, wenn ich in Wäldern wandern kann, ohne an Zäune zu stoßen oder ich meine Kinder in der Kita unterbringen kann, ohne in die roten Zahlen zu kommen. Und unterschätzen Sie bitte nicht die Internationalität von Paderborn, auch außerhalb eines bekannten Computerherstellers. Das Center for the History of Women Philosophers and Scientists ist die einzige Forschungsstelle dieser Art in Deutschland und international sehr bekannt. Auch in Harvard, Notre Dame und anderen weltweit exzellenten Universitäten kannte man die Arbeit, die hier geleistet wird. Es gibt sehr viele Studierende im Fach Philosophie in Paderborn und der große Andrang ist nicht zuletzt der exzellenten Arbeit geschuldet, die hier am Center und dabei im Bereich der Philosophiegeschichte geleistet wird. Die Abteilung sollte meiner Ansicht nach auf jeden Fall durch ein, zwei Lehrstühle erweitert werden. Ich musste zum Beispiel gleich meine Seminare begrenzen, weil ich in meinem Seminar Rationalisten der frühen Neuzeit innerhalb von nur einer Woche über 50 Anmeldungen hatte.

DFG: Zum Schluss: Was steht in der nächsten Zeit an?

CC: Ich möchte mich in den nächsten Jahren gezielt für eine Professur qualifizieren, das heißt, meine Habilitation schreiben, Artikel in Fachzeitschriften veröffentlichen, Konferenzen besuchen und alles, was so dazu gehört. So werde ich hoffentlich weitere grundlegende Einsichten in die Philosophiegeschichte gewinnen und diese der Forschung beitragen – nicht zuletzt zu Émilie Du Châtelet. Meine Kinder sind noch klein, aber aus der schwierigsten (Baby!) Phase raus – jetzt freue ich mich über ihre Entwicklung und es macht mir immer mehr Spaß.

DFG: Herzlichen Dank für das Gespräch und wir wünschen Ihnen gutes Gelingen bei Ihren Vorhaben. Vielleicht kommt ja doch in den nächsten Jahren ein Film über Leben und Werk von Émilie Du Châtelet in die Kinos.