"Der Wirtschaft auch in der Krise das Atmen erlauben"

Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Caren Sureth-Sloane

Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Caren Sureth-Sloane

© U Paderborn

Pandemie und Ökonomie: Über Zombieunternehmen als Ergebnis der Krise, das Potenzial der Verlustverrechnung sowie die Licht- und Schattenseiten von Transparenzregulierungen im Steuersystem. Im Gespräch mit Caren Sureth-Sloane, Mitglied der interdisziplinären DFG-Kommission für Pandemieforschung.

Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.


 

Professorin Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Caren Sureth-Sloane ist seit 2004 Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, an der Universität Paderborn. Sie forscht zu den Wirkungen der Besteuerung auf unternehmerische Entscheidungen, vor allem auf riskante Investitionsentscheidungen, und arbeitet zur internationalen Unternehmensbesteuerung sowie zu den Ursachen und Wirkungen von Steuerkomplexität und Transparenz. 

"forschung": Frau Professorin Sureth-Sloane, drei Jahre Pandemie, das bedeutet auch drei Jahre Krisenerfahrung für große und kleine Unternehmen in Deutschland. Wo steht die Wirtschaft gerade?

Caren Sureth-Sloane: Nach diesen Krisenjahren steht die Wirtschaft in Deutschland ganz gut da, sie hat sich sogar in und trotz der Krise positiv entwickelt, obwohl es ja erhebliche Unsicherheiten gibt. Insgesamt hat sie sich als durchaus resilient erwiesen. Wir sehen heute, dass sich die Ökonomie in einem erheblichen Maße wieder erholt hat, gewissermaßen zurückgefedert ist. Daran lässt sich auch ablesen, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen für Unternehmen im Schnitt eine positive Wirkung entfaltet haben. Das gilt natürlich nicht für jeden Einzelfall.

Die Auswirkungen der Pandemie auf das Wirtschaftssystem waren so vielfältig wie einschneidend – welche Wirtschaftsbranchen haben am folgenreichsten gelitten?

Es gibt die sogenannten Corona-Krisenbranchen: dazu gehören Beherbergungsgewerbe, Gastronomie, künstlerische Tätigkeiten, Filmverleihe und bestimmte Dienstleistungen im privaten Bereich, etwa Friseur- oder Kosmetiksalons. Sie alle waren binnen kurzer Zeit enorm betroffen. Viele dieser Branchen haben sich nun wieder erholt, auch in der Gastronomie ist die Talsohle durchschritten. Andere Branchen wie Kino und Filmverleih haben sich noch nicht erholt. Das hat allerdings auch mit verändertem Medienverhalten zu tun.

In den Medien war viel von Pleitewellen die Rede. Ergebnisse des Sonderforschungsbereichs (SFB) „Accounting for Transparency“, deren Sprecherin Sie sind, besagen aber, dass eine flächendeckende Insolvenzwelle ausgeblieben ist, sodass sogar von einem „Insolvenz-paradoxon“ gesprochen wird.

Das als „Insolvenzparadoxon“ beschriebene Phänomen folgt daraus, dass in der Pandemie die Pflicht zur Abgabe eines Insolvenzantrags ausgesetzt wurde. Damit sollten Unternehmen in der Krise unterstützt werden, auch wenn formaljuristisch die Bedingungen für eine Insolvenz gegeben waren, etwa durch eine krisenhaft angespannte Liquiditätslage. Was dann aber passiert ist, war nicht beabsichtigt: Nicht nur eigentlich gesunde Unternehmen wurden unterstützt, sondern auch viele zahlungsunfähige und überschuldete Unternehmen, die nicht erst durch die Pandemie in Schieflage geraten waren. Die Folge: Insolvenzanträge, die sinnvoll gewesen wären, wurden nicht gestellt. Das Ergebnis: weniger Insolvenzanträge trotz schwieriger Wirtschaftslage. Seit Kurzem sehen wir wieder, dass die Zahl der Insolvenzen steigt. Ob das schon bedeutet, dass die künstlich am Markt gehaltenen sogenannten Zombieunternehmen jetzt in die Insolvenz laufen, bleibt abzuwarten.

Auf welcher Datengrundlage werden solche Feststellungen getroffen?

In einem Teilprojekt unseres SFB werden die Insolvenzbekanntmachungen durch deutsche Insolvenzgerichte, die im Handels-, Genossenschafts- oder Vereinsregister veröffentlicht wurden, systematisch in unserer Datenbank „insol“ erfasst, sodass sie allgemein genutzt werden können. Auf dieser Basis können wir Muster erkennen und weitere Analysen ermöglichen. Das ist wichtig, da Insolvenzen ein elementarer Mechanismus des Wirtschaftssystems sind. Durch die Herausnahme nicht funktionierender Unternehmen entsteht Raum für Neues. Außerdem erheben wir mit dem „German Business Panel“ Ausfallwahrscheinlichkeiten. Beides, die Insolvenzentwicklung und -erwartungen sind eine wichtige Basis für wirtschaftspolitische Entscheidungen.

Schauen wir auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen und die beratende Expertise der Betriebswirtschaft: Schon im Frühjahr 2020 hat Ihr SFB ein Dossier mit dem sprechenden Titel „Research Insights – Addressing the economic challenges caused by COVID-19“ vorgelegt. Welches Ziel verband sich damit?

Als Gruppe von Forscherinnen und Forschern, die sich mit der Transparenz von Unternehmen – durch Unternehmensberichterstattung, Controlling und in der Besteuerung – sowie mit der Transparenz von Regulierung befassen, können wir auf vielfältigen Ebenen einen Beitrag zu aktuellen Problemlagen leisten. Ziel des Dossiers war es daher, Diagnosen bereitzustellen sowie Ansatzpunkte für eine effektive Regulierung aufzuzeigen und so zur Lösung akuter Probleme beizutragen. Auf Grundlage theoretischer Überlegungen und empirischer Studien haben wir damals etwa Reformen im Steuerrecht gefordert. Vor allem musste eine Diskriminierung von Verlustunternehmen herausgenommen werden, indem die Möglichkeiten zur Verlustverrechnung, insbesondere der sogenannte Verlustrücktrag, erweitert wurde.

Worauf kam es bei diesem Verlustrücktrag in der Krise an?

Die Möglichkeit zu einem Ver-lustrücktrag sieht vor, dass aktuelle, krisenbedingte Verluste mit den versteuerten Gewinnen früherer Jahre verrechnet werden können. Das führt zu einer schnellen Steuer erstattung,die den Unternehmen Liquidität verschafft. Das Entscheidende ist, dass der Verlustrücktrag ein schnelles und damit wirkungsvolles Instrument in der Krise ist. Auch für den Staat empfiehlt sich der Verlustrücktrag, weil er kostengünstig ist und lediglich Rückzahlungen zeitlich vorzieht, die weitgehend ohnehin mittelfristig anfallen würden.

Hat der Verlustrücktrag die Wirtschafts- und Finanzpolitiker überzeugt?

Der Vorschlag, den wir noch vor dem ersten Lockdown nach außen tragen konnten, ist auch von anderen Institutionen vorgebracht und von der Politik ungewöhnlich schnell aufgegriffen und entlang der Vorschläge der Wissenschaft umgesetzt worden. Schon früh in der Pandemie, im Sommer 2020, ist die Möglichkeit zum Verlustrücktrag ausgeweitet und im März 2021 verlängert und erweitert worden. Für mich ist das ein sehr positives Beispiel dafür, wie zielführend der Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sein kann.

Wie sind die staatlichen Liquiditätshilfen aus heutiger Sicht zu beurteilen?

Wir sehen bisher nur die kurzfristigen Effekte. Wie die Liquiditätshilfen langfristig wirken, muss über Langfriststudien weiter beobachtet werden. In Studien in anderen Ländern und im Ländervergleich sehen wir, wie bestimmte Maßnahmen in Krisen gewirkt haben. Diese Studien legen nahe, dass Anreizwirkungen, etwa durch Investitionsfördermaßnahmen, in Krisenzeiten besonders wichtig, aber nur dann erfolgreich sind, wenn es gleichzeitig gelingt, das Vertrauen in den Staat zu stärken und für gute, transparente Verfahren und Prozesse zu sorgen. Gerade bei Letzteren sehen wir erhebliche Schwächen und vermeidbare Belastungen für Wirtschaft und Verwaltung.

„Transparenz“ ist nicht nur bei Pandemiefragen ein wichtiger Bezugspunkt Ihrer Forschungen. Wie lässt sich die Spannung zwischen den Möglichkeiten und Grenzen von Transparenzregulierungen im Steuersystem beschreiben?

Es gibt den fortwährenden, gerne gehörten Ruf nach Transparenz. Wenn Transparenz aber nur bedeutet, dass mehr Informationen bereitgestellt und mehr Dokumentationen verlangt werden, muss man sich fragen: Wie hoch ist eigentlich die Qualität der Informationen, wer kann sie überhaupt aufnehmen und verstehen und wie viel kostet ihre Bereitstellung? Hier stößt Transparenz schnell an ihre Grenzen. Mehr Transparenz kann aufklärend wirken, aber auch Missverständnisse hervorrufen. Die apodiktische Forderung nach mehr Transparenz kann im Extremfall ganze Organisationen lähmen und Anreize zerstören, sich im gesellschaftlich angestrebten Sinne zu verhalten. Hier muss wissenschaftlich fundiert genau abgewogen werden.

Hier wie insgesamt wählen Sie den internationalen Vergleich für Ihre Studien. Warum?

Der internationale Vergleich als Instrument der Forschung ist wichtig. Wir beschäftigen uns mit Phänomenen und Regeln, die in einem globalen Wirtschaftsraum entstehen und wirken. Tatsächlich muss die Wirtschaft aber auf nationale sowie supranationale Entwicklungen und Regelgeber reagieren – die OECD, die EU, Länder mit unterschiedlichen Rechtssystemen, politischen Rahmenbedingungen und Rechnungslegungssystemen. In dieser Vielfalt sind Regeln letztlich immer kontextspezifisch und nicht für jeden passgenau. Wir erheben und analysieren die Regelungs- und Umweltvielfalt und können daraus lernen, welche Instrumente – zum Beispiel Investitionsanreize – unter welchen Bedingungen am ehesten zu einer zielführenden Regulierung beitragen.

Zurück zur Pandemie und den Pandemiemaßnahmen: Worin sehen Sie den vordringlichsten Forschungsbedarf aus Sicht der Betriebswirtschaft?

Besonders wichtig ist es, die Pandemiemaßnahmen ökonomisch zu evaluieren und dabei tief in die Unternehmen und deren Prozesse hineinzuschauen, um noch besser zu verstehen, unter welchen Rahmenbedingungen für welche Arten von Unternehmen und für welche Akteure – Managerinnen und Manager, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Kundinnen und Kunden oder Lieferanten usw. – Maßnahmen förderlich oder hemmend sind. Damit verbinden sich viele Fragen: Wer gewinnt, wer verliert – und unter welchen Bedingungen? Welche Maßnahmen waren besonders teuer, haben aber wenig erreicht und umgekehrt? Welche Maßnahmen sind flexibel genug? Das aufzuarbeiten ist sehr wichtig, damit der Instrumentenkasten bei der nächsten Krise noch besser genutzt werden kann.

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Was kann der „ökonomische Blick“ zur vieldiskutierten Preparedness beitragen?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es keine einfachen Antworten gibt. Dies erfordert ökonomischen Sachverstand, der die betriebswirtschaftlichen Prozesse in Unternehmen und die Interaktionen zwischen Unternehmen und gesellschaftlichen Stakeholdern versteht. Dafür ist umfangreiches Wissen über institutionelle Details wesentlich – mit Blick auf Gesetze und andere Formen der Regulierung. Ebenso wichtig ist es, granulare Daten über Unternehmen zu gewinnen. Zur Bewältigung dieser Mammutaufgaben können koordinierte Forschungsprogramme wie unser SFB wesentlich beitragen. Sie bieten einzigartige Chancen, im Austausch mit Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung Daten zu erheben und bestehende Datenräume nutzbar zu machen. Es ist wichtig, hier die Kompetenz der Betriebswirtschaftslehre noch gezielter zu nutzen, um so zur Krisenanalyse und -bewältigung beizutragen.

Nach Resilienz wird inzwischen überall in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gesucht. Welche Faktoren können langfristig zu mehr Resilienz für das Steuersystem beitragen?

Beispielhaft erläutere ich das einmal anhand des Verlustrücktrags: Das ist ein Instrument, welches das Atmen in Krisen erlaubt und die richtigen Unternehmen schützt – nämlich diejenigen, die an sich eine wirtschaftliche Kraft haben – und das keine Zombieunternehmen erzeugt. Ansonsten sehen wir uns im Bereich der Besteuerung immer damit konfrontiert, dass vieles nicht in der Hand eines nationalen Gesetzgebers liegt, sondern auf supranationaler Ebene vereinbart wird. Dadurch sind Reformen schwer und langsam. Allerdings zeigen unsere Studien auch, wie belastend viele nationale Strukturen und Prozesse für Unternehmen sind, insbesondere für die von der Krise betroffenen Unternehmen. So stellt der Abbau von Verwaltungskosten einen wichtigen Ansatzpunkt für gezielte Entlastungen, für die Stärkung der Resilienz und für mehr Vertrauen in den Staat dar. Durch fundierte Analysen und solche Bündel an Maßnahmen kann ein Beitrag zu mehr Resilienz geleistet werden.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

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