"Auf das Verhalten jedes Einzelnen kommt es an"

Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann

Prof. Dr. Michael Meyer-Hermann

© anna.lachaque

Der Physiker und Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann setzt auf datengetriebene Verfahren, um den Verlauf der COVID-19-Krise zu verstehen. Im Gespräch mit einem Mitglied der interdisziplinären DFG-Kommission für Pandemieforschung.

Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.


 

Professor Dr. Michael Meyer-Hermann leitet seit 2010 die Abteilung System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI). Zugleich ist er Professor an der TU Braunschweig und Mitglied im Direktorium des Braunschweig Integrated Centre of Systems Biology (BRICS), einer gemeinsamen Einrichtung des HZI und der TU Braunschweig. Die Expertise der Pandemiemodellierers wissen auch Politik, Medien und Grundlagenforschung zu schätzen.

"forschung": Was unterscheidet die jetzige Situation von der im ersten harten Lockdown im Frühjahr?

Michael Meyer-Hermann: Die Fallzahlen sind bekanntlich viel höher als im Frühjahr. Die Bevölkerung hat das Virus nach der überstandenen ersten Welle nicht mehr so ernst genommen. Gleichzeitig hat das Sommerwetter gegen uns gespielt. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir die Triage in den überlasteten Krankenhäusern nicht mehr ausschließen können. Daher musste jetzt dringend und deutlich gehandelt werden.

Ist der "Wellenbrecher-Lockdown" von Anfang November gescheitert?

Der weiche Lockdown hat eine Stabilisierung der Fallzahlen und eine Resensibilisierung der Bevölkerung erreicht. Das neue exponentielle Wachstum zeigt allerdings, dass die weichen Maßnahmen tatsächlich nicht gereicht haben, um die Pandemie wieder zu kontrollieren. Es ist schade, dass wir mit dem harten Lockdown so lange gewartet haben. Im Oktober hätten wir mit den gleichen Maßnahmen in kurzer Zeit die zweite Welle im Keim erstickt und damit nicht nur viele Leben gerettet, sondern auch große wirtschaftliche und psychosoziale Folgen reduziert.

Werden die jetzigen, nochmals verschärften Einschränkungen ausreichen, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und herunterzufahren?

Die Maßnahmen sind weniger drastisch, als sie aussehen. Die Schulen wären jetzt sowieso zu gewesen. Im Wesentlichen wurden zusätzlich die Geschäfte geschlossen, was sicherlich viele Kontakte im Weihnachtsgeschäft verhindern wird. Dem standen mehr Kontakte und Familienbesuche zu Weihnachten gegenüber. Es ist zu hoffen, dass die Schulschließungen als Vor-Quarantäne, die Zahl der Neuinfektionen in der älteren Bevölkerung begrenzt haben. In unseren Modellen gibt es einen Anstieg zehn Tage nach Weihnachten mit einem Gesamttrend nach unten. Das ging aber von konstanten Fallzahlen aus. Ob das jetzt mit dem exponentiellen Wachstum als Ausgangspunkt noch reicht, ist nicht sicher.

Täglich werden wir mit vielen Kennwerten zur Pandemiekrise konfrontiert, darunter die Zahl der Neuinfektionen, der noch verfügbaren Intensivbetten, der COVID-19-Todesfälle. Sie betonen häufig die Bedeutung des R-Wertes. Warum?

Die Bedeutung des R-Wertes ist der Blick in die Zukunft. Der R-Wert sagt, in welche Richtung die Entwicklung weitergeht. Dass der RWert unter 1 sein muss, damit die Fallzahlen zurückgehen, ist inzwischen ja eine Binsenweisheit. Am R-Wert lässt sich schnell erkennen, ob in der Pandemiebekämpfung etwas getan werden muss oder nicht.

Um einen weiteren Indikator anzusprechen: die 7-Tage-Inzidenz. Halten Sie einen Schwellenwert von 50 Infizierten auf 100.000 Einwohner zwischen Lockerungen hier und Verschärfungen dort weiterhin für richtig?

Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass man daran nicht herumdiskutiert. Die Zahl ist durch die Politik mit einer guten Intuition gewählt worden. In dem Wert spiegelt sich die eigentliche Zielsetzung wider, nämlich dass die Gesundheitsämter in der Lage bleiben, die Kontakte nachzuverfolgen und die Infektionsketten zu erfassen. Eine Inzidenz von 50 ist für die Gesundheitsämter gerade noch machbar. Aber hier liegt auch der Kipppunkt zwischen kontrolliertem Wachstum und einer unkontrollierten, schnell exponentiellen Entwicklung mit ihrer ganzen Dynamik.

Ist das nutzbar für eine Hotspot-Strategie?

Die Hotspot-Strategie ist an dieser Stelle nicht die relevante, weil wir in der Situation eines Flächenbrands stehen. Erst wenn der Flächenbrand gelöscht ist, werden die Hotspots sichtbar und relevant und verlangen dann lokale und regionale Maßnahmen.

Abstandhalten, Händewaschen, Alltagsmasken – die AHA-Regeln sind das eine, die Akzeptanz und das Verhalten der Menschen das andere. Lässt sich dieser Wirkfaktor aus Ihrer Sicht überhaupt überschätzen?

Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist tatsächlich der entscheidende kritische Faktor. Anhand unserer Modellierungen zeigte sich, dass die Bevölkerung sowohl beim vollständigen Lockdown im Frühjahr als auch beim partiellen Lockdown im Herbst noch vor Beginn der Maßnahmen ihr Kontaktverhalten verändert hat. Das ist eindeutig, und man sieht, welche Macht im Verhalten der Bevölkerung liegt. Durch die Diskussionen über den Lockdown wurde vielen klar – es wird ernst und wir müssen etwas tun.

Wie verstehen Sie selbst Ihre Rolle in der Politikberatung?

Meine Rolle als Wissenschaftler ist, durch Simulationen den politischen Entscheidungen eine gewisse Datenbasis zu geben, eine prospektive Sicht anzubieten, wie Lage und Entwicklungsrichtung sich darstellen. Ich weise aber immer darauf hin, dass unsere Vorhersagen nicht mehr als einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen umfassen können – auch weil sich das Verhalten der Bevölkerung an die jeweilige Pandemiesituation adaptiert. Deshalb warne ich vor einer Überinterpretation der Voraussagen: Ich ziehe die Daten der Pandemie heran und bewerte sie, versuche zu sagen, wo das unter verschiedenen Szenarien hinläuft. Das kann der Politik vor Augen führen, was diese und was jene Maßnahme bewirkt. Diese Bewertung in den Kontext anderer Fragen zu stellen, etwa ethischer oder sozialund wirtschaftspolitischer Fragen, ist Sache der Politik. Allerdings rückt dieser Grenzbereich zwischen den Disziplinen zunehmend in den Fokus meiner Forschung. So entstand das Papier "Das gemeinsame Interesse von Gesundheit und Wirtschaft" von ifo Institut und HZI, in dem wir darauf hinweisen, dass eine gesunde Wirtschaft eine zügige Kontrolle der Pandemie voraussetzt und daher politische Maßnahmen zur Eindämmung rechtfertigt.

Welche Erwartung verbindet sich für Sie damit, Mitglied in der DFG-Pandemiekommission zu sein?

Für mich ist die Interdisziplinarität der Kommission ein ganz entscheidender Faktor. Das ist nicht nur persönlich bereichernd, sondern kommt Entscheidungen und Empfehlungen zugute. Die Eigenperspektive wird durch andere Perspektiven ergänzt, gerade in der Grundlagenforschung. Entscheidungen werden damit auch besser umsetzbar, weil auch andere Gesichtspunkte, zum Beispiel die Verhaltenspsychologie in der Pandemie oder die Kollateralschäden in rechtlicher oder wirtschaftlicher Hinsicht, einbezogen werden. Pointiert gesagt: Es geht nicht nur um die Auslastung von Intensivbetten, sondern um ein breites Verständnis des Pandemiegeschehens. Das empfinde ich als sehr wichtig und wertvoll. Über die zeitnahe Ausschreibung und Förderung von Projekten in der Grundlagenforschung hinaus könnte die Pandemie-Kommission vielleicht auch Impulse zur öffentlichen Kommunikation und weiteren Aufklärung über die Pandemie setzen.

Ist es richtig, dass Sie schon vor der Pandemie dafür eingetreten sind, physikalischen Denkansätzen sowie mathematischer Modellierung einen größeren Stellenwert in der immunologischen Forschung einzuräumen?

Ich kämpfe in der Tat seit langer Zeit dafür, dass Methoden aus der Mathematik zum Standardrepertoire der Immunologie werden. Durch meine Simulationen habe ich beispielhaft gezeigt, wie das funktionieren kann – und wie die Ergebnisse konstruktiv genutzt werden können, nicht nur in Pandemiezeiten.

Wir können das Gespräch nicht beenden, ohne über die hoffnungsvollen Corona-Impfstoffe zu sprechen. Was erwarten Sie von den Impfungen für den weiteren Pandemieverlauf?

Es bleibt zunächst abzuwarten, wie wirksam die angekündigten Impfstoffe sind, vor allem für die verschiedenen Altersklassen. Ich denke besonders an die ältere Bevölkerung ab 60 Jahren, eine besonders vulnerable Gruppe, von der allerdings bekannt ist, dass die Erfolgsrate bei anderen Impfstoffen weitaus niedriger ist. Abschätzbar ist, dass es hinreichend Zeit und Impfstoff erfordert, um die Bevölkerung breit zu impfen. Auch wenn es eine hohe Wirksamkeit und wenige Nebenwirkungen geben sollte, wird es länger dauern, bis alle Impfwilligen durchgeimpft sind. Das wird eine Verkleinerung des Pandemieproblems, aber keine Lösung bedeuten.

Wird es dennoch im Jahr 2021 eine neualte Normalität geben?

Ich hoffe, dass wir die Pandemie so unter Kontrolle bekommen werden, dass wir es wieder schaffen, normale soziale Kontakte zu haben, ohne andere anzustecken oder angesteckt zu werden. Ich glaube aber nicht, dass wir das bis zum Frühling schaffen werden. Es kann sein, dass wir im Herbst 2021 eine Form von Erleichterung spüren werden. Ich glaube aber auch, dass wir uns mit einer neuen öffentlichen Kultur auseinandersetzen müssen, die stärker auf Rücksicht und Achtsamkeit aufgebaut ist. Das könnte nicht nur dem gesellschaftlichen Miteinander zugutekommen, sondern auch die individuelle Selbststeuerung im Alltag unterstützen. Sonst bleiben wir in der Situation, dass Kontaktbeschränkungen immer wieder vom Staat verordnet werden müssen. In der Pandemie wird es auch künftig ganz entscheidend auf das Verhalten der Menschen in ihren verschiedenen Lebensbereichen ankommen.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Interview!

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Englische Übersetzung des Interviews ist in der 

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