"Dilemma der Digitalisierung"

Prof. Dr. Jonas Schreyögg

Prof. Dr. Jonas Schreyögg

© HCHE

Blick zurück nach vorn auf das deutsche Gesundheitssystem: Über sichtbar gewordene wirtschaftliche Strukturprobleme, einen besseren Zugang zu Gesundheitsdaten für eine evidenzbasierte Forschung und die Erwartungen an eine elektronische Patientenakte. Im Gespräch mit Jonas Schreyögg, Mitglied der interdisziplinären DFG-Kommission für Pandemieforschung.

Interview: Dr. Rembert Unterstell, “forschung”.


 

Professor Dr. Jonas Schreyögg ist Inhaber des Lehrstuhls für Management im Gesundheitswesen an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE). Schreyögg, Jahrgang 1976, ist Ökonom und hat an der TU Berlin promoviert. Als Postdoc war er an der Stanford University tätig. Nach der Habilitation war er zunächst 2009/2010 Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Health Services Management, an der LMU München, bevor er 2010 nach Hamburg berufen wurde. Er ist unter anderem seit 2015 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen; 2019 wurde er in die interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung der DFG berufen.

"forschung": Herr Professor Schreyögg, wir führen dieses Interview Ende Juni, und erstmals seit Langem sinken die Infektionszahlen, während gleichzeitig die Zahl der Geimpften von Tag zu Tag steigt. Viele atmen schon auf. Sind wir wieder in der Normalität angekommen?

Jonas Schreyögg: Beim Abflauen der Pandemie greifen positiv zusammenwirkende Effekte ineinander: Der Effekt der wärmeren Jahreszeit, dann der Testeffekt und bei schnell wachsenden Corona-Impfzahlen auch der Impfeffekt. Zugleich ist die Delta-Virusvariante auf dem Vormarsch. Es könnte auch sein, dass eine Herdenimmunität nur schwer herbeizuführen sein wird, und wir immer wieder kleine Ausbrüche sehen werden. Trotzdem glaube ich, dass wir mittelfristig positiv in die Zukunft schauen können, auch das wirtschaftliche und soziale Leben belebt sich wieder.

Hat sich unser Gesundheitssystem, das im Ausland als eines der besten und teuersten weltweit gilt, in der Pandemie als krisenfest erwiesen?

Teils, teils. Wir haben in Deutschland gerade am Anfang der Pandemie Glück gehabt. Hätte es uns so früh und unvorbereitet getroffen wie zum Beispiel die Lombardei, die eines der stärksten Gesundheitssysteme in Europa hat, wäre die Situation eine völlig andere gewesen. Wir haben auch deshalb Glück gehabt, weil wir eine weitaus dünnere Personaldecke, zum Beispiel pro Bett auf Intensivstationen, haben als andere Länder. Wir reden hier über die Hälfte des Intensivpflegepersonals pro Bett wie in Italien oder Frankreich. Wenn man also sagt: Unser Gesundheitssystem hat sich als robust erwiesen, muss man hinzufügen, dass hier früh in den Lockdown gegangen wurde, die Pandemieentwicklung frühzeitig abgebremst wurde, sodass es nie zu einer so prekären Situation wie anfangs in der Lombardei gekommen ist.

Mit einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems wurden die Lockdown-Maßnahmen politisch gerechtfertigt, zuletzt mit der Verfügbarkeit von Intensivbetten. Angesichts von einem Maximum von 5700 Corona-Kranken auf Intensivstationen bei 34.000 Intensivbetten sprechen Kritiker nun von politischer Instrumentalisierung. Überzeugt Sie das?

Ich finde diese Diskussion insgesamt zu undifferenziert. Intensivbett ist nicht gleich Intensivbett. Viele sogenannte Intensivbetten sind im engeren Sinne nicht geeignet, schwerstkranke Corona-Patienten zu versorgen. Die Behandlung dieser Patienten hat sich auf Unikliniken und Maximalversorger (das heißt Krankenhäuser mit in der Regel mindestens 500 Betten) konzentriert; dazu liegen inzwischen auch Zahlen vor. Diese Einrichtungen sind an verschiedenen Standorten sehr an ihre Grenzen gekommen. Mit Blick auf Behandlungskapazitäten hätte man wissen müssen, welches Personal hinter jedem Bett steht. Diese Zahlen kennen wir aber bis heute nicht. Ich fordere dazu auf, das klinikbezogen unbedingt nachzuholen. Der limitierende Faktor ist nicht das Bett, auch nicht das Beatmungsgerät, sondern das verfügbare Personal. Insofern greift die Diskussion um Betten zu kurz.

Klammert man den dramatischen Pflegenotstand einmal aus – welche Strukturprobleme hat die Pandemie besonders hervorgekehrt?

Aus der Katastrophe in der Lombardei hat man gelernt, nur schwerste Corona-Fälle in die stationäre Behandlung zu holen. Sicher ist die Notfallversorgung in Deutschland auch im Brennglas der Pandemie als systemisches Problem deutlich geworden. Im Sachverständigenrat zu Entwicklungen im Gesundheitswesen haben wir vor der Pandemie ein Gutachten unter anderem zur Notfallversorgung vorgelegt, das eine Reform empfiehlt. Wir haben ja das Problem in Deutschland, dass Patienten sehr schnell in Notfallambulanzen gehen. Wenn da nicht zu Anfang der Pandemie umgesteuert worden wäre, wären wir in ein großes Problem hineingeraten. Insofern war es eine wegweisende Entscheidung des Robert Koch-Instituts, Patienten bei leichten Verläufen zu bitten, sich zu Hause in Selbstisolation zu begeben, das zentral über die Kassenärztlichen Vereinigungen beziehungsweise die Telefonnummer 116117 zu steuern – und nur bei schweren Verläufen die Menschen ins Krankenhaus einzuweisen.

Das Krisenmanagement der Gesundheitsämter – ich denke an die Kontaktnachverfolgung – ist vernichtend kritisiert worden...

Wir haben in Deutschland kein ausgebautes Public-Health-System wie in England oder in asiatischen Staaten. In Deutschland ist der öffentliche Gesundheitsdienst heruntergespart worden und hat vor der Pandemie gewissermaßen seine Funktion verloren. Es muss hier umgedacht werden, und zwar grundsätzlich und weit über die Pandemie hinaus. Die Rolle des Gesundheitsdienstes muss neu definiert werden und ein vernetztes Public Health Planning eine weitaus größere Rolle bekommen.

Was meinen Sie damit, wenn Sie vom „Digitalisierungsdilemma des deutschen Gesundheitssystems“ sprechen?

Auch nach 15 Monaten funktionieren bekanntlich die Meldeketten von den Gesundheitsämtern an das Robert Koch-Institut nicht reibungslos; sie sind noch immer nicht vollständig digitalisiert. Leider sind überhaupt viele Datenstandards in der Kranken- und Gesundheitsversorgung noch gar nicht definiert. Vor allem: Der Zugang zu empirischen Daten für eine Forschungsfrage ist schlechter als in anderen Ländern. In Deutschland gibt es keine zentrale Stelle, die Datensätze verknüpfen und in der gewünschten verlinkten Form bereitstellen könnte. Das hat Auswirkungen: In Italien konnten relativ früh Studien veröffentlicht werden, die Infektionsdaten, klinische Daten und sogenannte Krankenkassenroutinedaten zusammenführten; ebenso in England und den USA. Bei der Digitalisierung und dem Datenzugang für Forschungszwecke hinken wir international hinterher.

Während der Pandemie sind große Datenlücken aufgefallen. An welche Datenquellen denken Sie als Gesundheitsökonom besonders?

Es braucht generell einen besseren Zugang zu schon bestehenden Gesundheitsdaten. Ein substanzieller Anteil meiner Arbeit besteht darin, diese komplizierten Zugänge zu Versorgungsdaten zu bewerkstelligen. Das ist nicht trivial! In internationalen Kontexten sind längst Daten aus elektronischen Patientenakten wichtig, etwa in England, den skandinavischen Ländern, auch Taiwan, Kanada oder den USA. Für die Gesundheitsökonomie und die Versorgungsforschung in Deutschland wird es ganz entscheidend darauf ankommen, wie man in den nächsten Jahren hier weiterkommt.

Braucht es bei der Nutzung von Krebsregisterdaten oder fallbezogenen Abrechnungsdaten usw. nicht einen besonderen Datenschutz?

Ja, das denken viele. Aber tatsächlich hat die Datenschutzgrundverordnung die Nutzung von Daten in medizinischen Kontexten eher privilegiert. Die Problematik in Deutschland liegt eher in der rechtlichen Auslegung – auch in der heterogenen Auslegung zwischen den Bundesländern.

Von welchem Gesundheitssystem in Europa ließe sich denn viel lernen?

(lacht) Da könnte man einige nennen, aber natürlich haben die nordischen Ländern da ein Alleinstellungsmerkmal. Die Datenbestände und deren Verknüpfungen sind großartig – und auch diese Länder unterliegen der Datenschutzgrundverordnung. In EU-Projekten sehen wir, dass in einigen Ländern, von denen man es nicht erwartet hätte, ich denke gerade an Ungarn oder Slowenien, bessere Zugänge zu forschungsrelevanten Datenbeständen existieren als hierzulande.

Worin liegt die Herausforderung für das deutsche Gesundheitssystem?

Wenn wir es nicht schaffen, mit Blick auf Datenquellen und auf die Datenzugänge international anschlussfähig zu werden, dann werden deutsche Forscherinnen und Forscher immer mehr ausländische Daten nutzen. Diese Botschaft müssen wir in den nächsten Jahren immer wieder kommunizieren, dass ein großer Wert und Nutzen für den Forschungsstandort Deutschland darin liegt, diese Zugänge auszubauen und auch administrativ zu verbessern.

Täuscht der Eindruck, dass Sie sich von der elektronischen Patientenakte viel erwarten?

Ja, das ist so. Allerdings gibt es da noch einige Baustellen. Erst einmal müssen möglichst viele Bürgerinnen und Bürger dafür gewonnen werden, dass sie solche Patientenakten tatsächlich auch nutzen wollen. Die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern im Umgang mit der Patientenakte sprechen dafür, das Opt-out-Verfahren zu nutzen (das heißt, eine elektronische Gesundheitsakte wird angelegt, wenn nicht ausdrücklich widersprochen wird – bisher gilt das Opt-in-Verfahren). Das ist gut praktikabel, hat aber in der deutschen Bevölkerung und im Bundestag bisher keine Mehrheit.

Als Berater der Gesundheitspolitik und als Mitglied der Kommission für Pandemieforschung machen Sie sich dafür stark, empirische Daten aus dem Gesundheitssystem auch für das Forschungssystem nutzbar zu machen. Sind die Aussichten dafür nach dem DVG (Digitale-Versorgung-Gesetz) vom Dezember 2019 besser geworden?

Das ist natürlich ein ganz wichtiger Schritt, aber ein erster Schritt, um wirklich zu einer breiten Nutzung und einem reifen Nutzen zu kommen. Wichtig ist zunächst, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu gewinnen, weil viele in Sachen Digitalisierung skeptisch sind. Das haben wir auch in der DFG-geförderten ECOS Survey gesehen, die in sieben europäischen Ländern durchgeführt wird zur Akzeptanz von Maßnahmen während der Pandemie. Ein auffälliges Ergebnis ist, dass es große Akzeptanzunterschiede gibt, die Skepsis in Deutschland in Bezug auf Digitalisierung größer und die Impfbereitschaft kleiner als in vielen anderen Ländern ist.

Haben sich Ihre persönlichen Erwartungen bei der Mitwirkung in der interdisziplinären Kommission für Pandemieforschung erfüllt?

Seitdem ich forsche, arbeite ich interdisziplinär. Das macht mir nicht nur persönlich Spaß, sondern ist nach meiner Ansicht auch der Weg, wissenschaftlich voranzukommen. Die Zusammenarbeit im Plenum und in den Unterarbeitsgruppen über Fächergrenzen hinweg empfinde ich als wichtig und anregend, auch weil sich damit Überblicke zu unterschiedlichen Forschungsansätzen und -fragen verbinden. Das kann auch für die eigene Forschungsarbeit inspirierend sein.

Nach der Pandemie ist womöglich vor der Pandemie. Was lässt sich aus Ihrer Sicht daraus lernen?

Die Pandemie hat uns vieles vor Augen geführt, negative und positive Aspekte. Wenn Sie so wollen, war die Pandemie auch so etwas wie ein langes Seminar zur kritischen Auseinandersetzung mit vielen Bereichen. Das gilt natürlich auch für politische Kontexte – und in meinem Blickfeld für die Ausgestaltungen des Gesundheitswesens. Im nächsten Schritt wird es darauf ankommen, das Erkannte aufzuarbeiten und Lehren daraus zu ziehen – und nicht nur durchatmend zum Alltag zurückzukehren.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und das Gespräch!

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