Pressemitteilung Nr. 20 | 1. Juni 2021

„Notgemeinschaften der Wissenschaft“: Neue Studie zur Geschichte der DFG von 1920 bis 1973

Patrick Wagner schildert Entwicklung der Förderorganisation in drei politischen Systemen / Sozialer Schutzraum der Hochschul- und Grundlagenforschung und ihrer wertekonservativen Eliten

Patrick Wagner schildert Entwicklung der Förderorganisation in drei politischen Systemen / Sozialer Schutzraum der Hochschul- und Grundlagenforschung und ihrer wertekonservativen Eliten

Einen ebenso umfassenden wie kritischen Blick auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und damit auf die wissenschaftsgeleitete Forschungsförderung in Deutschland in der ersten Hälfte ihres 100-jährigen Bestehens wirft eine neue Studie, die jetzt unter dem Titel „Notgemeinschaften der Wissenschaft“ erschienen ist. In ihr zeichnet der Historiker Professor Dr. Patrick Wagner die Entwicklung der DFG von der Gründung ihrer Vorgängerorganisation 1920 und durch die Weimarer Republik über die Zeit des Nationalsozialismus bis zur Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in die frühen 1970er-Jahre der Bundesrepublik nach. Den historischen Bogen über fünf Jahrzehnte und drei politische Systeme spannend, gibt die Studie zugleich Aufschluss über die Wurzeln für die auch heute prägende Rolle der DFG in der Forschungsförderung und im Wissenschaftssystem sowie für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik in Deutschland.

Die mehr als 500 Seiten umfassende Darstellung ist eng verbunden mit der Arbeit der ehemaligen „Forschungsgruppe zur DFG-Geschichte 1920–1970“, in der von 2000 bis 2008 unter der Leitung der Historiker Professor Dr. Ulrich Herbert und Professor Dr. Rüdiger vom Bruch rund 20 Studien und Sammelbände entstanden oder ihren Ausgang nahmen. Die wie nun auch Wagners Studie im Franz Steiner Verlag Stuttgart erschienenen Veröffentlichungen thematisieren zum einen die Entwicklung einzelner Forschungsfelder und Fächer wie der Sprach-, der Erb- oder der Krebsforschung im Spiegel ihrer Förderung durch die DFG, zum anderen zeichnen sie organisationelle Entwicklungen wie die „Förderstrategien der DFG 1949–1968“ nach. Die DFG hatte die von ihrem damaligen Präsidenten Professor Dr. Ernst-Ludwig Winnacker eingesetzte Forschungsgruppe mit rund 5,5 Millionen Euro gefördert, die Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen erfolgten jedoch unabhängig.

Patrick Wagner, der von 2003 bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe war und seitdem Zeitgeschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg lehrt, geht in seiner nunmehr erschienenen Studie zunächst von den heutigen Funktionen der DFG für das „wissenschaftliche Feld“ in Deutschland aus, die er in dreierlei Hinsicht beschreibt: Die DFG vermittele als erstes die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Politik, indem sie staatliche Fördermittel akquiriere und in die Wissenschaft verteile; sie stelle zweitens Regeln mit Gültigkeitsanspruch für die gesamte Wissenschaft auf und vermittele diese „qua Autorität, aber auch mit dem sanften Druck ihrer Ressourcen“, was Wagner für die jüngere Zeit an den Themen wissenschaftliches Fehlverhalten und Gleichstellung in der Wissenschaft festmacht; sie überweise drittens ihren Geförderten auch „symbolisches Kapital“, das in Statusgewinne und Gratifikationen übersetzt werden könne. Alle diese Funktionen, so Wagner, habe die DFG bereits seit der Gründung ihrer Vorgängerorganisation 1920 erworben und durch drei politische Systeme hindurch beibehalten und auch behauptet.

Auf dieser Folie untersucht Wagner die Entwicklung der Institution DFG, ihre eigene Verfasstheit und ihr Verhältnis zu den politischen Akteuren und Regimen, aber auch zu den von ihr Geförderten sowie deren eigene Einstellungen. Für die Weimarer Republik und die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ macht er dabei eine „wohlmeinende Autokratie“ ihres in königlich-preußischen Traditionen verhafteten Gründungspräsidenten Friedrich Schmitt-Ott, ein enges Kontaktnetz von Wissenschaftlern, Ministerialbeamten, Bankiers und Industriellen sowie eine sich zunächst in allgegenwärtiger „Not“ und „Gefahr“ wähnende und zunehmend politisch aufladende Grundeinstellung der geförderten Klientel „abseits der Demokratie“ aus. Im Dritten Reich herrschten auch in der DFG das „Führerprinzip“, das auf einem Bündnis nationalsozialistischer Funktionäre und Nachwuchswissenschaftler mit vor 1933 etablierten nationalistischen Professoren beruhte, und eine weitgehende „Selbstmobilisierung“ der Förderorganisation und der Geförderten, die, so Wagner, bis hin zur „Begleitforschung für Völkermord und Vertreibung“ führte.

Aber auch in der Bundesrepublik und nach ihrer eigenen Neugründung 1951 fungierte die DFG zunächst lange noch als, so Wagner, „Reservat der Ordinarien“ und als Vergemeinschaftung einer vor allem wertekonservativen Elite, die ihren Wissenschafts- und auch Lebensstil erneut in Not und Gefahr sah. Es dauerte bis Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre, ehe sich auch in der Organisation DFG und ihrem Handeln sowie in ihrer Klientel ein „aus Überzeugung“ demokratisches Selbstverständnis durchsetzte – vorangetrieben durch einen Generationswechsel und eine langsame internationale Öffnung der bundesdeutschen Wissenschaft, mit einer Reform der DFG-Gremien als Kernstück und versinnbildlicht in Begriffen wie „Gutachter-Demokratie“ (der damalige DFG-Präsident Professor Dr. Julius Speer 1968) oder „Gelehrten-Republik“ (Speers Nachfolger Professor Dr. Heinz Maier-Leibnitz 1974). An diesem Punkt endet Wagners Untersuchung.

Für die DFG ist die Studie ein weiterer wichtiger Beitrag zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und zur Selbstvergewisserung für ihr heutiges Handeln. Präsidentin Professorin Dr. Katja Becker hebt anlässlich der Veröffentlichung hervor: „Wir sehen aktuell vielleicht stärker denn je, wie sehr die Wissenschaft und ihre wissenschaftsgeleitete Förderung im Dienste der Gesellschaft stehen und wie viel sie zur Lösung zentraler Herausforderungen beitragen können. Aber auch die menschenverachtende und barbarische Forschung in den 1930er- und 1940er-Jahren und ihre Förderung verstanden sich in dieser Weise. So zeigt Patrick Wagners Untersuchung eindringlich, dass solche Selbstzuschreibungen nicht zur leeren Formel verkommen dürfen. "Wissenschaft und Wissenschaftsförderung können nur dann menschendienlich sein, wenn sie selbst integer sind und wenn wir selbst als Individuen und als Organisation beständig an unserer Integrität arbeiten. Dies steht uns auch vor Augen, wenn wir in diesen Monaten weiter an 100 Jahre unabhängige Wissenschaft und Wissenschaftsförderung in Deutschland erinnern und in Politik und Gesellschaft für den Wert erkenntnisgeleiteter Grundlagenforschung werben."

Weiterführende Informationen

Medienkontakt:

  • Marco Finetti
    Leiter Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der DFG
    Tel. +49 228 885-2230

Bibliografische Angabe:
Patrick Wagner: Notgemeinschaften der Wissenschaft. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) in drei politischen Systemen, 1920–1973 (Studien zur Geschichte der DFG, herausgegeben von Rüdiger vom Bruch (†), Ulrich Herbert und Patrick Wagner, Band 12), Franz Steiner Verlag Stuttgart 2021, 505 Seiten, € 68

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