SCIENCE ON - Talk mit Cécile Schortmann

Demokratie – Haben wir noch eine Wahl?

28. April 2018 Talkreihe der DFG in Kooperation mit der Bundeskunsthalle

Europas Demokratien verändern sich derzeit fundamental: Das Vertrauen in die Institutionen sinkt und populistische Positionen gewinnen immer mehr an Einfluss. Gleichzeitig laufen den großen Volksparteien die Mitglieder und Wähler weg. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich und ihre Interessen nicht mehr vertreten.

Blick auf das Podium

Ist die Demokratie in der Krise? Sind Parteien noch zeitgemäß oder brauchen wir neue, flexiblere Formen der politischen Partizipation? Vor allem junge Leute engagieren sich zunehmend in schnell organisierten Protestbewegungen – online, offline und überparteilich. Liegt hier die Zukunft der Demokratie? Diskutieren Sie mit!Die Gäste:

  • Thomas Krüger | Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn
  • Armin Nassehi | Professor für Soziologie, München
  • Claudine Nierth | Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie e.V., Berlin
  • Katharina Nocun | Netzaktivistin und Publizistin, BerlinSigrid Roßteutscher | Wahlforscherin, Professorin für Soziologie, Frankfurt am Main

Moderation: Moderation: Cécile Schortmann HR/3sat

Der dritte Talk

Bericht zum Talk – Braucht die Demokratie ein Update?

Befindet sich die Demokratie in Deutschland in einer Krise? Was sind mögliche Anzeichen dafür – und welche Lösungsansätze gibt es? Im Rahmen der dritten Veranstaltung der Talkreihe „Science on“ diskutierten am 25. April 2018 auf Einladung von DFG und Bundeskunsthalle Gäste aus Wissenschaft und Gesellschaft mit Moderatorin Cécile Schortmann über den Zustand der Demokratie.

Katharina Nocun, Netzaktivistin und vor einigen Jahren einmal politische Geschäftsführerin der Piratenpartei, forderte vor rund 400 Zuhörerinnen und Zuhörern gleich zu Beginn ein „Update“ für die Demokratie. Sie müsse jünger und weiblicher werden. Denn in der Politik dominierten noch immer die Männer, zudem liege der Altersdurchschnitt bei 60 Jahren. Dabei sei die Jugend nicht etwa politikverdrossen, ganz im Gegenteil: Viele junge Menschen hätten „Bock“ auf Politik, aber fühlten sich bei Parteiveranstaltungen „einfach nicht zuhause“.

Genügt es also, die Parteien für Jugendliche und junge Erwachsene attraktiver zu machen? Oder reichen die Probleme tiefer? Wer über Demokratie debattiert, kommt nicht umhin, auch über die immer schneller voranschreitende Erosion der Volksparteien zu reden. Sigrid Roßteutscher, Soziologie-Professorin aus Frankfurt, machte die zusammengebrochenen Milieustrukturen dafür verantwortlich, dass Wählerinnen und Wähler und Volksparteien den Kontakt zueinander verloren haben: „Früher sind Parteien bestens mit der Gesellschaft vernetzt gewesen, über Kirchen und Gewerkschaften etwa. Das ist heute anders.“ Armin Nassehi, ebenfalls Soziologe und Professor an der LMU München, pflichtete ihr bei und sprach von Kirchen und Gewerkschaften als „Vorfeldorganisationen der Parteien, die quasi alternativlose Mitgliedschaftsagenturen waren“. In einer globalisierten Welt habe sich die Gesellschaft jedoch radikal gewandelt, während die Parteien ein Stück weit in ihrer „folkloristischen“ Welt verhaftet geblieben seien. An dieser Stelle wurde das Publikum – wie noch häufiger an diesem Abend – in die Diskussion einbezogen: Mithilfe des eigenen Smartphones konnten die Zuhörerinnen und Zuhörer darüber abstimmen, wie eng sie sich mit einer Partei verbunden fühlen.

Auch Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, unterstrich die gesellschaftlichen Transformationsprozesse als Herausforderung für die Parteien. Diese müssten die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaft besser widerspiegeln. Gleichzeitig trat Krüger dem Vorwurf entgegen, die Parteien seien nicht unterscheidbar. Er kritisierte vielmehr eine nach seiner Wahrnehmung gleichförmige Medienberichterstattung, die zu wenig Raum böte für öffentliche Diskurse – vielfältigere Medienformate würden helfen, die unterschiedlichen Positionen der Parteien zuerkennen. Auch Armin Nassehi trieb die Frage der Unterscheidbarkeit der Parteien um, denn wer solle sich, so fragte der Soziologe, eigentlich unterscheiden: die Parteien? oder die Politik, die die Parteien anbieten? Erstere seien unterscheidbar, letztere jedoch weniger.

„Warum glauben wir die Demokratie dadurch retten zu können, dass die Volksparteien wieder ihren früheren Status zurückerlangen?“, fragte Katharina Nocun an dieser Stelle der Debatte. Unabhängig vom Zustand der Volksparteien habe die Demokratie in Deutschland vor allem auch ein Gerechtigkeitsproblem: „Diejenigen, die die Hilfe der Politik am nötigsten hätten, gehen in der Regel kaum oder gar nicht wählen“, schilderte Sigrid Roßteutscher ein Ergebnis ihrer Untersuchungen als Wahlforscherin. Das betreffe vor allem junge Wählerinnen und Wähler mit geringer Bildung. „Wer nicht zur Wahl geht, der partizipiert aber auch nicht auf andere Weise. Wir haben deshalb eine Zweiteilung der Gesellschaft: ein Teil partizipiert auf vielen verschiedenen Wegen, ein Teil überhaupt nicht“, so Roßteutscher weiter. Auch Krüger warnte davor, dass eine bestimmte gesellschaftliche Klientel bereits „abgehängt“ sei. Deshalb müssten neue Formen der Beteiligung gefunden werden.

Eine Form der Beteiligung könnten Elemente direkter Demokratie sein, so zum Beispiel Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild. Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin des Vereins „Mehr Demokratie“, stellte die Forderungen ihres Vereins nach Plebisziten in Deutschland auf Bundesebene vor. Es sei zu wenig, alle vier Jahre ein Kreuz machen zu können und sonst nicht beteiligt zu werden. „ Demokratie ist für mich das, was niemanden ausschließt“, erklärte Nierth und wies darauf hin, dass nach ihrer Erkenntnis immer mehr Menschen sich auch außerhalb der Parteien politisch engagieren und an Entscheidungen beteiligt sein wollten. Armin Nassehi und Thomas Krüger konnten sich dieser Forderung nicht anschließen und zeigten sich überzeugt, dass mit den skizzierten Formen der direkten Demokratie und dem damit geäußerten Mehrheitswillen nicht nur Minderheitenrechte unterminiert, sondern auch die ohnehin privilegierten gesellschaftlichen Gruppen – insbesondere die mit einem Bildungshintergrund – noch weiter gestärkt würden. So war denn auch eine der zentralen Einsichten des Abends, die sich nicht nur in der Publikumsbefragung im Saal sondern auch in Forschungsergebnissen zeigt: Politisches Engagement, wie etwa die Wahlbeteiligung, ist keine Frage des Alters, sondern der Bildung. Und die sollte möglichst früh ansetzen.

So wurde dann auch die Frage diskutiert, ob das Wahlalter nicht auf 16 oder gar 14 Jahre herabgesetzt werden sollte. „Wir müssen den jungen Menschen ermöglichen zu wählen, wenn sie noch in der Schule sind, denn dort ist Raum für politische Bildung, für Diskussionen über Parteien und Demokratie“, forderte Sigrid Roßteutscher.

Ein Update der Demokratie – wie die junge Netzaktivistin Katharina Nocun es zu Beginn der Diskussion gefordert hatte - müsste nach Erkenntnis der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf dem Podium für allem dafür sorgen, dass etwas gegen die soziale Ungleichheit, die sich in der politischen Partizipation niederschlägt, getan wird. Und letztlich, so Armin Nassehi, werde die Demokratie nicht dadurch gestärkt, dass man sie schlecht rede und nach mehr direkter Beteiligung rufe, sondern dadurch, dass man die Mechanismen des parlamentarischen Systems stärke.

Mitschnitt der Veranstaltung