Information für die Wissenschaft Nr. 39 | 24. Mai 2022

Schwerpunktprogramm „Greybox-Modelle zur Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für die Hochleistungszerspanung“ (SPP 2402)

Der Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hat im März 2022 die Einrichtung des Schwerpunktprogramms „Greybox-Modelle zur Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für die Hochleistungszerspanung“ (SPP 2402) beschlossen. Als Laufzeit sind sechs Jahre vorgesehen. Die DFG lädt hiermit ein zur Antragstellung für die erste dreijährige Förderperiode.

Problemstellung

Der überwiegende Teil der Zerspanoperationen mit geometrisch bestimmter Schneide wird mit beschichteten Hartmetallwerkzeugen ausgeführt. Das reale, komplexe Einsatzverhalten dieser Werkzeuge ist mit dem derzeitigen Stand der Forschung jedoch weder zufriedenstellend messbar noch ausreichend modellhaft beschreibbar. Versagensbeginn, Verschleißfortschritt und Restlebensdauer können nicht mit hinreichender Sicherheit identifiziert oder prognostiziert werden. Das verhindert die wissensbasierte Auswahl und Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für neue oder effizientere Zerspanprozesse. Um ein tiefergehendes Verständnis zu erlangen, muss das tribologische System der Zerspanung umfassender und ganzheitlicher ausgewertet und analysiert werden. Fortschritte unter anderem in der Werkstoffanalytik, der Messtechnik und der Datenanalyse werden noch nicht ausreichend in die Beschreibung des Schädigungsverlaufs einbezogen. Jede einzelne Disziplin verfügt über ein hervorragendes, spezifisches Vorwissen, das in Form von Whitebox-Modellen immer detaillierter und atomistischer beschrieben wird. Dazu zählen z. B. numerische Simulationen, die mit zunehmender Detaillierung jedoch immer rechen- und zeitintensiver werden. Die hochgradig nicht linearen Wechselwirkungen der Realität können aufgrund notwendiger, vereinfachender Annahmen dennoch nie vollständig beschrieben werden. Demgegenüber können reine Blackbox-Modelle bei ausreichender und relevanter Datenbasis komplexe Korrelationen modellhaft abbilden und sind lernfähig. Physikalische Wirkzusammenhänge bleiben jedoch häufig unverstanden und ihre Robustheit in Bezug auf veränderliche Randbedingungen unsicher.

Als Grenzen für die bisher verfolgten Whitebox-Modelle können zwei Gründe ausgemacht werden:

  1. Die gewählten Systemgrenzen limitieren eine vollständige Betrachtung. Nicht alle verfügbaren Daten sind in Whitebox-Modelle integrierbar und nicht alle notwendigen Eingangsdaten messbar. Nicht alle Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind über physikalische Gesetze beschreibbar.
  2. Das werkstoffimmanent stochastische Versagen beschichteter Werkzeuge im realen Einsatz wird in den verfügbaren, oft idealisierten Whitebox-Modellen nicht ausreichend berücksichtigt. Bereits eine Eingrenzung dieser Unsicherheit bietet großes Potenzial zur Effizienzsteigerung.

Wissenschaftliche Ziele

Das übergeordnete Forschungsziel ist somit, die bisher erarbeitete und vorliegende deterministische Modellwelt (Whitebox) mit einer neuen, zu beforschenden datengetriebenen Modellwelt (Blackbox) in Greybox-Modellen zu kombinieren. Mit diesen Greybox-Modellen sollen dann die rein deterministisch nicht beschreibbaren zeitlichen Veränderungen der Werkzeuge im Einsatz bis hin zum Standzeitende erfasst werden. Die robusten, aber ungenauen Prognosen aus Whitebox-Modellen sollen mithilfe datengetriebener und lernfähiger Blackbox-Modelle in ein präzises Zielfenster konvergiert werden. Bereits existierende Algorithmen der Statistik oder des maschinellen Lernens, die im Verständnis einer Blackbox-Modellierung agieren, bilden dafür einen Lösungsraum und sollen nicht gänzlich neu entwickelt, aber genutzt oder modifiziert werden. Damit wird eine wissensbasierte Auswahl und Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für neue oder effizientere Zerspanprozesse ermöglicht.

Ziel aller Projekte ist der Aufbau individueller Greybox-Modelle, die eine Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für die Hochleistungszerspanung ermöglichen. Damit soll die derzeit existierende Lücke zwischen stationären Werkstoffeigenschaften vor und nach dem Einsatz, also das instationäre Systemverhalten der beschichteten Werkzeuge in der Zerspanung, erforscht und geschlossen werden. Voraussetzung dafür ist, dass in jedem Projekt die notwendige Expertise aufseiten der Werkstoff-/Beschichtungstechnik und der Fertigungstechnik vorliegt. Die statistische Absicherung und die Bewertung der Daten hinsichtlich Plausibilität und Qualität sind weitere wichtige Bestandteile des Lösungswegs, daher ist ebenfalls Expertise aus den Qualitätswissenschaften erforderlich. Bei Bedarf kann Expertise aus der Messtechnik, Statistik oder der wissenschaftlichen Datenanalyse in das Projekt integriert werden. Die Entwicklung neuer Messtechnik oder Werkstoffanalytik steht nicht im Vordergrund, kann aber im Einzelfall zu neuen Lösungsansätzen führen und soll daher nicht generell ausgeschlossen werden. Vorgesehen ist, (Konsortial-)Projekte zu fördern, die sich bevorzugt aus zwei bis drei Disziplinen zusammensetzen.

Die wesentliche Eingrenzung erfolgt über die verwendeten Werkzeuge und Zerspanoperationen. Bereits einsatzfähige Schichtsysteme werden unmittelbar zum Projektstart ausschließlich auf Werkzeugen aus Hartmetall abgeschieden und für die Zerspanversuche in ausreichender Menge zur Verfügung gestellt. Prozessdaten zur Herstellungshistorie der beschichteten Werkzeuge sind nicht zwingend notwendig. Als Zerspanoperation wird nur Drehen oder Fräsen betrachtet. Um Ergebnisse und Daten aus Vorarbeiten nutzen zu können, wird der zu verwendende Werkstückwerkstoff auf „Metalle“ eingegrenzt. Um eine Vergleichbarkeit der Arbeiten zwischen den Einzelprojekten zu erreichen und daraus einen Mehrwert im SPP zu generieren, soll C45 als (zusätzlicher) Werkstoff betrachtet werden.

Nicht gefördert werden:

  • die grundlegende Neuentwicklung von Schichtsystemen,
  • Zerspanversuche mit ausschließlich unbeschichteten Werkzeugen – unbeschichtete Werkzeuge können allenfalls zu Referenzzwecken mituntersucht werden –,
  • Zerspanprozesse über das Drehen und Fräsen hinaus,
  • reine Blackbox-Modelle, wie z. B. in Ansätzen der künstlichen Intelligenz,
  • reine Whitebox-Modelle, wie z. B. in rein numerischen Simulationen,
  • die grundlegende Neuentwicklung von Algorithmen der Statistik oder des maschinellen Lernens.

Arbeitsprogramm

Fortschritte in der Forschung auf den Gebieten der Zerspantechnologie, Beschichtungstechnik, Werkstofftechnik und Qualitätswissenschaft ermöglichen es jetzt, gemeinsam eine neue Methodik für die verbesserte Analyse des Verhaltens beschichteter Werkzeuge im Zerspanprozess zu entwickeln. Als Schlüssel werden die erfassten, aber zum Großteil ungenutzten großen Datenmengen in der Forschung gesehen.

Die Greybox-Modelle basieren auf deterministischen Modellen, die durch In-situ-Messdaten justiert werden können. Das Systemverhalten der Werkzeuge ist Teil der Greybox-Modelle, um die zeitabhängigen Veränderungen der Werkstoffeigenschaften und des Beanspruchungskollektivs während der Zerspanung zukünftig zu berücksichtigen. Aufseiten der Werkstofftechnik werden zunächst die beschichteten Werkzeuge im Herstellungszustand analysiert. Deutlich stärker im Fokus stehen hier aber die zeitabhängigen Veränderungen aufgrund der thermischen, mechanischen und chemischen Belastungen im Einsatz. Das Beanspruchungskollektiv im Zerspanprozess kann z. B. in Form von Kräften, Temperaturen, Bildern oder Geräuschen zunehmend besser und umfassender in situ erfasst werden. Zielführend wäre es, Veränderungen der In-situ-Messdaten auf den Schädigungsfortschritt der Werkzeuge zurückführen zu können. Neben experimentellen Daten können auch numerische Simulationen weitere wertvolle Daten liefern, die zum Teil ausschließlich virtuell ermittelt werden können. Zunächst heterogene Datenformate aus dem Zerspanprozess und aus der Werkstoffanalytik gilt es zusammenzuführen. Möglichst viele Realdaten sollen systematisch aufgenommen, qualifiziert und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der Qualitätswissenschaft kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie umfasst die Messtechnik, Statistik und Datenanalyse. Um die probabilistischen Aussagen aus Greybox-Modellen sinnvoll bewerten zu können, ist zunächst die Definition von Qualitätsmerkmalen für die verwendeten Daten wichtig. Die valide Interpretation der Ergebnisse erfordert zwingend eine ganzheitliche Betrachtung über die Werkzeuglebensdauer hinweg und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Das Schwerpunktprogramm ist für einen Förderzeitraum von zwei mal drei Jahren ausgelegt. Schwerpunkte der ersten Phase sind die Datenerfassung und der Aufbau der Greybox-Modelle. Die Qualität und Signifikanz experimenteller Daten aus Mess- und Analyseverfahren werden bewertet. Virtuelle Daten können zusätzlich einfließen. Ziel ist ein konkreteres Verständnis des realen, zeitabhängigen Beanspruchungskollektivs. Das makroskopische Systemverhalten der Werkstoffverbunde soll besser abgebildet werden, z. B. können die gesamte Randzone des Hartmetalls mit Hartstoffschicht sowie der Einfluss von beispielsweise null- bis dreidimensionalen Gitterfehlern oder auch Eigenspannungen stärker berücksichtigt werden. Zur statistischen Absicherung muss auf eine Wiederholbarkeit der Versuche und Generierung korrelierbarer Daten geachtet werden. Es wird erwartet, dass durch die Verwendung der Greybox-Modelle bei ausreichend großer Datenmenge neue Signifikanzen zu Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen sichtbar werden, die in der zweiten Phase grundlegend erforscht werden können. Damit kann das entwickelte Greybox-Modell verfeinert werden, um zunehmend zu validen Prognosen zu gelangen. Die Qualität der Greybox-Modelle kann zusätzlich durch eine Übertragbarkeit auf veränderte Tribosysteme sichergestellt werden. Dies beinhaltet z. B. eine Variation der Werkzeuggeometrie, der Stoff- oder Formeigenschaften der Triboelemente oder der Zerspanprozessparameter. Als Ergebnis sollen konkrete Entscheidungshilfen zur Verfügung stehen, die für den Zerspaner die Auswahl geeigneter Werkzeuge erleichtern und den Werkzeughersteller zu einer besseren Werkzeugempfehlung für die konkrete Zerspanoperation eines spezifischen Werkstoffs befähigen.

Reichen Sie Ihren Antrag bitte bis spätestens 18. Oktober 2022 bei der DFG ein. Die Antragstellung erfolgt ausschließlich über das elan-Portal zur Erfassung der antragsbezogenen Daten und zur sicheren Übermittlung von Dokumenten. Bitte wählen Sie unter „Antragstellung – Neues Projekt/Antragsskizze – Schwerpunktprogramm“ im elektronischen Formular aus der angebotenen Liste „SPP 2402 – Greybox-Modelle zur Qualifizierung beschichteter Werkzeuge für die Hochleistungszerspanung“ aus.

Berücksichtigen Sie bitte beim Aufbau Ihres Antrags das DFG-Merkblatt 54.01 zu Sachbeihilfen mit Leitfaden für die Antragstellung und die Hinweise im Merkblatt Schwerpunktprogramm 50.05, Teil B.

Handelt es sich bei dem Antrag innerhalb dieses Schwerpunktprogramms um Ihren ersten Antrag bei der DFG, beachten Sie, dass Sie sich vor der Antragstellung im elan-Portal registrieren müssen. Ohne Registrierung bis zum 30. September 2022 ist eine Antragstellung nicht möglich. Bitte wählen Sie im Registrierungsformular bei den abschließenden Angaben ebenso wie bei der Antragstellung Ihr Schwerpunktprogramm aus der angebotenen Liste der Ausschreibungen aus. Die Bestätigung der Registrierung erfolgt in der Regel bis zum darauffolgenden Arbeitstag.

Das Antragskolloquium sowie die Begutachtung des Schwerpunktprogramms wird voraussichtlich am 17./18. Januar 2023 stattfinden.

Weiterführende Informationen

Das elan-Portal der DFG zur Einreichung der Anträge finden Sie unter:

Die Merkblätter DFG-Vordruck 50.05 und 54.01 stehen unter:

Inhaltliche Fragen beantwortet Ihnen die Koordinatorin des Schwerpunktprogramms:

  • Professorin Dr.-Ing. Kirsten Bobzin
    Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
    Fakultät für Maschinenwesen
    Institut für Oberflächentechnik (IOT)
    Kackertstraße 15
    52072 Aachen
    Tel. +49 241 80-95329

Auskünfte zur Antragstellung bei der DFG erteilen:

Fachlich:

Formal: