Neurowissenschaftler Michael Brecht hält Leibniz Lectures in Brasilien

Axel Zeidler, deutscher Generalkonsul in São Paulo, Brito Cruz, wissenschaftlicher Direktor bei FAPESP und Kathrin Winkler, Leiterin des DFG-Büros Lateinamerika, bei den Grußworten zur Eröffnung

© DFG

(14.05.18) Der renommierte Neurowissenschaftler Professor Michael Brecht präsentierte Ende April erstmalig seine Forschungsarbeit in Brasilien. Der Titel „Sex, Touch & Tickle – the Cortical Neurobiology of Physical Contact“ weckte das Interesse von insgesamt rund 150 Zuhörerinnen und Zuhörern, die zu den vom DFG-Büro Lateinamerika organisierten Leibniz Lectures in São Paulo und Rio de Janeiro erschienen. Forscherinnen und Forscher, Promovierende und Studierende erhielten einen Einblick in Brechts außergewöhnliche Forschung, in der er untersucht, wie das Gehirn von Säugetieren auf Kitzeln oder sexuelle Berührungen reagiert.

Für seine originellen Forschungsansätze und innovativen Methoden wurde Brecht 2012 mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) verliehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis geehrt. „Ich interessiere mich für soziale Interaktionen, und ein Ansatz, dem näherzukommen, besteht darin, den Effekt der körperlichen Berührung auf das Gehirn zu untersuchen“, so der Wissenschaftler. Seine Untersuchungen führt er an Ratten durch, wobei ein Teil seiner Studien darin besteht, das Verhalten der Tiere auf Berührung zu beobachten und die Reaktion im somatosensorischen Kortex, der für die zentrale Verarbeitung von Sinnesreizen zuständig ist, zu verfolgen.

Ein Forschungsprojekt, das sich unter anderem mit dem Kitzeln von Ratten befasst, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen und die Idee, dass Ratten kitzlig sind und dies auch genießen, wurde von der wissenschaftlichen Community vor rund 20 Jahren zunächst kritisch aufgenommen. „Als damals die ersten Untersuchungen gemacht wurden, beschäftigte man sich mit der Frage, ob Schimpansen lächeln können. Die Hypothese, dass Ratten kitzlig sein könnten und diese Art von Berührung sogar mögen und Gelächter ähnliche Laute von sich geben, war hingegen eine bemerkenswerte Fragestellung – so bin ich zu dem Thema gekommen“, erzählt der Leibniz-Preisträger.

Die Forschungsergebnisse haben dazu beigetragen, dieses bislang schwer vorstellbare Phänomen besser darzustellen und zu verstehen. In diesem Zusammenhang wurde auch beobachtet, dass sich das Verhalten der Ratten nach dem Kitzeln verändert: Sie machen Freudensprünge – etwas, was sie sonst nicht tun. „Kaninchen verhalten sich zum Beispiel so, wenn sie zum ersten Mal im Freien sind, oder Meerschweinchen, wenn sie zufrieden sind. Auch Menschen machen Freudensprünge, zum Beispiel, wenn im Maracanã-Stadion ein Tor fällt; Ratten hingegen in der Regel nicht. Wir haben diese Reaktion ausschließlich nach dem Kitzeln beobachtet, und es ist ein Signal dafür, dass sie Spaß haben“, erläuterte Brecht während seines Vortrags und amüsierte das Publikum mit dieser Anekdote.

Mithilfe von Videoaufnahmen und Ultraschallmessungen stellte Brecht fest, dass gekitzelte Ratten ähnliche Laute von sich geben wie beim Spielen untereinander, und auch die Reaktionen im Kortex sind ähnlich. Er leitet daraus ab, dass das Kitzeln eine ähnliche soziale Funktion hat wie das Spielen und betont, wie wichtig entsprechende Studien dazu sind.

„Die Neurowissenschaft hat sich bisher nur wenig mit dem Vergnügen befasst, und oft wird das Thema als zu simpel und nicht ernst genug angesehen. Untersuchen wir jedoch nicht das normale Verhalten der Tiere, werden wir nicht in der Lage sein, Krankheiten zu heilen. Die Freude am Spielen kann nämlich auch zum Problem werden, wenn die Individuen keine Kontrolle darüber haben. Studien mit hyperaktiven Kindern haben gezeigt, dass verabreichte Medikamente wie beispielsweise Ritalin ihren Spieldrang massiv drosseln und sie dadurch ruhiger werden. Geben wir diese Substanzen Ratten, hören auch diese auf miteinander zu spielen. Wir müssen die Wirkung solcher Substanzen besser verstehen, um unsere Entscheidungen zu treffen“, erläuterte Brecht die Bedeutung seiner Arbeit.

Klaus Zillikens, deutscher Generalkonsul in Rio de Janeiro, Kathrin Winkler, Leiterin des DFG-Büros Lateinamerika, und Jorge Moll Neto, Vorsitzender des IDOR bei der Eröffnung

© DFG

Auch in der Forschungslinie, die sich mit sexuellen Berührungen befasst, haben seine Untersuchungen wichtige Ergebnisse hervorgebracht. So fand er unter anderem heraus, dass Berührungen der Genitalien von Ratten die den Geschlechtsorganen entsprechenden Bereiche des Gehirns erheblich verändern und zu verfrühter Pubertät führen. „Der Einfluss der Berührung beschränkt sich nicht nur auf die Haut, sondern hat drastische Strukturveränderungen des Gehirns und des ganzen Körpers zur Folge. Berücksichtigt man diese Tatsache sowie Forschungsergebnisse in Bezug auf Menschen, wird deutlich, wie gravierend sexueller Missbrauch von Kindern ist und wie negativ sich dieses Erlebnis auf die Entwicklung auswirkt. Auch bei Erwachsenen mit einer Vergangenheit von sexuellem Missbrauch in der Kindheit ist zu beobachten, dass die Folgen dieser traumatischen Erfahrung im Gehirn noch immer erkennbar und bei den Betroffenen noch deutlich spürbar sind“, so Brecht weiter.

Die DFG nutzt das Format der Leibniz Lectures, um herausragende Forschungsthemen im Ausland zu präsentieren und den Dialog zwischen renommierten Forscherinnen und Forschern aus Deutschland, der wissenschaftlichen Community in Brasilien und dem allgemeinen Publikum vor Ort zu fördern. „Die Lectures eröffnen den Forschenden aus beiden Ländern die Möglichkeit, gemeinsames Potenzial und Exzellenz in ihren jeweiligen Fachgebieten auszuloten“, erläuterte die Leiterin des DFG-Büros Lateinamerika, Dr. Kathrin Winkler.

In Rio de Janeiro wurde die Veranstaltung zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit einem der wichtigsten Forschungszentren im Bereich Neurowissenschaften, dem Instituto D’Or (IDOR) organisiert – ein großer Erfolg, wie die Anwesenheit zahlreicher Forscherinnen und Forscher sowie Studierender der Einrichtung und von deren Partneruniversitäten zeigte. „Es freut mich sehr, dass so viele gekommen sind und dass wir die Leibniz Lecture hier durchführen konnten. Die Integration solcher Veranstaltungen in das passende Forschungsumfeld und ganz in die Nähe aktiver Forschungstätigkeiten ist der vielversprechendste Weg, Initiativen zu säen und nachhaltige Kooperationen zu schaffen, was ein wesentliches Ziel unseres Büros hier in Brasilien ist“, so Winkler.

In São Paulo war die FAPESP erneut Veranstaltungsort und Partner in der Durchführung der Leibniz Lecture. In ihrem Grußwort betonte Winkler, dass die mittlerweile zwölfjährige zuverlässige Zusammenarbeit von DFG und FAPESP stets ein fruchtbarer Boden für akademischen und wissenschaftspolitischen Austausch gewesen sei und zahlreiche gemeinsame Initiativen hervorgebracht habe.

Anlässlich der Lecture wurde Brecht zu einem Termin mit FAPESP-Präsident José Goldemberg eingeladen, der dem deutschen Wissenschaftler damit seine Anerkennung aussprach und großes Interesse an den Neurowissenschaften zeigte: „Trotz aller Fortschritte sind wir nach wie vor noch weit entfernt davon, die komplexen Zusammenhänge des menschlichen Gehirns nachzubilden. Ob unsere Gefühle und Emotionen jemals programmierbar werden?“ Die Antwort des Leibniz-Preisträgers ließ nicht lange auf sich warten: „Wir wissen nur wenig über das Gehirn und selbst das, was erforscht ist, lässt noch viele Fragen offen – genau das motiviert und beschäftigt mich als Neurowissenschaftler.“

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